• Moritz Kuhlmann
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Bild 1: AdobeStock/Karen, generiert mit KI

Tischkulturen

Neben dem Esstisch gibt es unzählige andere Tische: zum Beispiel den Schreibtisch, den Nachttisch oder den Stehtisch. Moritz Kuhlmann erzählt von den unterschiedlichen Tischen, die seinen Alltag in verschiedenen Kulturen geprägt haben.

Was ein Tisch bewirken kann, habe ich gelernt, als wir im Kosovo mit Gymnasiasten Kontakt zur Roma-Community aufbauten. Wie kann man ein Roma-Viertel betreten? Was hilft, um Beziehungen aufzunehmen? Ein einfacher Tisch wurde dabei zu einem erstaunlichen Werkzeug. Auf dem Lehmboden zwischen den Hütten stellten wir einen kleinen Klapptisch auf – schon war ein Raum da. Um ihn versammelten sich Menschen und kamen ins Gespräch; Kinder und Jugendliche, die sonst Müll sammelten, um die Familie durchzubringen, konnten sich an Stift und Papier erproben; der lahme Straßenhund fand Schatten, und uns gab er ein Gefühl von Sicherheit. Nachdem zwischen Gymnasiasten und Roma-Jugendlichen bald eine Gemeinschaft gewachsen war, fand sich der Klapptisch im Zentrum unseres Morgengebets wieder. Koran, Bibel und Kerze tragend bereitete er den Ort für Gesang und Lesung, Stille und Bitte: dass die Mama heute früher nach Hause kommt; dass der Papa Arbeit findet und am Abend nicht böse ist; und dass Lejla auch morgen zum Lesenlernen zu Besuch kommt. Als die Gemeinschaft stark genug war, bauten wir um den Tisch herum ein Haus. Dort steht er noch heute, als eine Mitte des Integrationsprojekts „Concordia Tranzit“.

An den runden Esstischen in China bedient sich jeder in der Mitte

In China sitze ich nun an anderen Tischen. Da sind die oktagonalen Tischinseln verstreut im Vorlesungssaal, Power Point und Gesichtsaufnahme des Vortragenden sind auf einem die vier Wände durchziehenden Bildschirmband aus jeder Perspektive sichtbar. Studierende verwenden mindestens drei Geräte gleichzeitig, Smartphone, Laptop und Pad, an den Tischgruppen sind sie in permanentem Gespräch über die parallele Vorlesung. Da sind die kreisrunden Tische in den Universitätskantinen, die 40.000 auf dem Campus Wohnende (von Studierenden über Reinigungspersonal und Gärtnern zu Professoren mit deren Familien) versorgen. An den runden Esstischen wird nur gemeinsam gegessen, keiner bestellt ein eigenes Gericht, sondern bedient sich an den in der Mitte für alle zugänglichen Speisen, zieht sie Bissen für Bissen über einer kleinen Reisschale zu sich.

Oder die Tischtabletts im 11er-Intensivstation-Zimmer eines Pekinger Krankhauses, in dem die Pflegenden nachts eine Liege ausklappen. Sie wohnen im Krankenzimmer, ihr persönlicher Bereich beschränkt sich auf eine Schublade.

Da sind die Plastiktische unter Planen um das Holzhaus mitten in einer Teeplantage, an dem die 70, 80 Verwandten bewirtet werden, die für das siebentägige Totengedächtnis alles stehen und liegen lassen. Da sind die Opfertische in den Kirchen und Tempeln, die daran erinnern, dass der Mensch in all dem Alltäglichen, das er am Tisch wirkt, letztlich dem dient, was ihm heilig ist – oder gerade die Abwesenheit jeglichen Tischs in den Meditationshallen des Zen-Buddhismus, wo das Sitzen ohne Tisch das Dasein ohne Müssen zeigt.

Was sind die Tische in Ihrem Leben? Wie gestalten sie Ihren Alltag?

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