Jesuiten 2015-2

Gott will es? Unterscheiden! 2015/2 ISSN 1613-3889

© Fotolia/Alenavlad Ausgabe Juni/2015 Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Gott will es 4 Was bewegt mich? 6 Wie schmeckt’s? 7 Am Anfang, in der Mitte und auf Dauer gut 8 Marathon oder Kurzstrecke? 10 Trost und Trauer 12 Zuviel des Guten 13 System Je nachdem? 14 Typische Fallen und mögliche Hilfen 16 Einfach umsetzen? 18 Die Unterscheidung der Zeitgeister 20 Ein frommes Coaching? Geistlicher Impuls 22 St. Michael Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Medien 28 DVD Jesuitenmission Personalien 28 Jubilare Vorgestellt 30 Christliche Erziehung in einem muslimischen Land 33 Autoren dieser Ausgabe Die besondere Bitte 34 Das Loslassen lernen 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Virtualität – Anwesenheit des Abwesenden 6 Virtualität aus der Schulperspektive 8 Mailgewitter & Twitterstürme 10 In die Computerzeit hineinleben 11 Erreichbarkeit 2.0: Facebook ohne Ende 14 Online-Exerzitien 16 Pastorale Projekte 17 Warum ich (noch) nicht bei Facebook bin 18 Warum ich bei Facebook bin 20 blog.radiovatikan.de 21 Jesuiten in Facebook Geistlicher Impuls 22 Von der Versuchung, virtuell zu leben Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Vorgestellt 29 Gebetsapostolat Nachrufe 2012 30 Unsere Verstorbenen Medien 32 DVD: Die Schrittweisen. Zu Fuß nach Jerusalem 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte 34 Ein Abonnement „Stimmen der Zeit“ 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2012/4 2012/4 Titelbild: @ Fotolia „Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ Diese Definition aus „Wikipedia“ auf vielfältige Weise umzusetzen, nahm sich Simon Lochbrunner SJ mit seinen Bildern im Schwerpunktteil dieser Ausgabe vor.

Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, Vom „Gespür für Gottes Willen“ spricht Ignatius in dem „Bericht des Pilgers“, der Erzählung seines Lebens. Ein schönes Wort, das Zutrauen und kluge Vorsicht zugleich ausdrückt. Kluge Vorsicht, weil es zeigt, dass Gottes Willen nicht einfachhin klar ist. Es gibt ihn, aber man kann ihn nicht einfach nachlesen oder gesagt bekommen. Man kann ihn nicht besitzen, verwalten und verordnen, man muss ihn suchen und finden. Zutrauen, weil es zeigt, dass die Suche keine leere und vergebliche Mühe ist. Man kann sich einüben, Gottes Willen zu erspüren, man kann für ihn eine Sensibilität entwickeln und Ungehörtes sich erhören. Ich kann herausfinden, was Gott für mein Leben will. Die Orientierung, den Kompass für diese Suche, nennt Ignatius die „Unterscheidung der Geister“. Für sie gibt er in seinem Exerzitienbuch eigene Regeln. Er gibt sie, weil nicht jeder Gedanke, den ich in den Exerzitien habe, nicht jede Einsicht, die mir plötzlich klar wird, und jedes Gefühl, das mich ergreift, sogleich die direkte Stimme Gottes ist. Er lehrt sie auch, weil er selbst nur zu gut wusste, dass gerade bei Menschen, die überzeugt vom Guten sind, die Gefahr wächst, den eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln. Er beschreibt sie in typischer Systematik zur Erprobung und zur Prüfung. Aber er gibt sie nicht nur für die Exerzitien, sondern umso mehr für den Alltag. Die Unterscheidung der Geister ist das Gespür im Alltag, das mir helfen kann, mich zu orientieren und meine Ausrichtungen zu überprüfen. Die vorliegende Ausgabe der JESUITEN möchte in kurzen Artikeln, die aus der persönlichen Erfahrung sprechen, über die „Unterscheidung der Geister“ berichten – und ihre Vorgehensweise zugleich abbilden. Deshalb hat sich die Struktur des Schwerpunktthemas von den „Regeln zur Unterscheidung der Geister“ selbst inspirieren lassen: Nachdem Provinzial Stefan Kiechle SJ in einem Überblicksartikel das Thema grundsätzlich umrissen hat, greift der zweite Teil wichtige Kriterien der „Unterscheidung der Geister“ heraus, so z.B. den „Geschmack“, die „Dauer“, die Frage nach dem Ziel und der situativen Angemessenheit, den Umgang mit Traurigkeit und Trauer. Die letzten drei Artikel zeigen schließlich, dass die „Unterscheidung der Geister“ nicht allein im inneren Herzenskämmerchen, sondern immer auch in aktiver Auseinandersetzung mit der Welt um uns herum geschieht. Dass dabei Spannung und Harmonie aufeinander bezogen sind, wollen wir mit dem musikalischen Bildprogramm zu diesem Schwerpunkt illustrieren. Wir wünschen Ihnen eine geistreiche Lektüre! Johann Spermann SJ Tobias Specker SJ 1 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Gott will es Mancher, der in Stille und Einsamkeit geht, hofft, dass er dadurch zur Ruhe kommt. Oft passiert jedoch das Gegenteil: Innere Stimmen werden lauter; die Bilder und die Dispute, die Gefühle und die Gedanken werden nicht weniger, sondern mehr. Wer im Schweigen „Exerzitien“ macht – spirituelle Übungen in der Tradition der Jesuiten –, stellt sich diesen inneren Stimmen. Die Übungen rufen bestimmte Bilder hervor: Man malt sich eine biblische Szene aus, versetzt sich mit eigenen Fragen in sie hinein und lässt zu, was kommt: Sehnsüchte und Phantasien; Ideen, was man tun könnte; Furcht vor dem, was droht; Verlockendes, Abstoßendes…. Ignatianisch nennt man all dies „Regungen“; in den Übungen wird man sie Gott hinhalten und mit ihnen beten. Weil man sie ebenso als Stimmen deuten kann, die von außen auf den Menschen einreden, nennt man sie auch „Geister“: Diese flüstern mir alles Mögliche und Unmögliche ein, bisweilen abenteuerliche Ideen, auch tiefe Gefühle von Freude oder gar von Hass. Oft sind die Geister widersprüchlich oder chaotisch, manchmal lästig, oft auch interessant, Lust machend, anziehend, begeisternd... Geister sind also Inneres und Äußeres, oft auch beides zugleich, nicht trennbar. Was bedeutet nun das „Unterscheiden“ der Geister? Zuerst muss man die Geister wahrnehmen, also ehrlich und nüchtern in ihrer Wahrheit nehmen. Das ist gar nicht einfach, denn gerne drängen wir unangenehme Geister weg, wollen sie nicht zulassen, machen uns etwas vor, lügen uns, bewusst oder unbewusst, etwas in die Tasche. Wir brauchen eine längere Schule, uns selbst und unser Inneres gut und ehrlich wahrzunehmen – und es eben anzunehmen, wie es ist, auch mit dem, was wir nicht mögen. Das Unterscheiden ist der nächste Schritt: Welche Regungen oder Geister führen mich in gute Situationen oder in heilbringende Aktionen, welche nicht? Welchen folge ich, welchen nicht? In der Widersprüchlichkeit der Gefühle und Gedanken will ich die guten Geister von den bösen Geistern oder „Abergeistern“ unterscheiden. Was ich schließlich als gut erkannt habe, dem folge ich, was als böse oder schlecht, das weise ich zurück und folge ihm nicht. Klingt einfach, ist aber ein langer Weg: braucht Offenheit für Gefühle, Klarheit im Urteil, am Ende auch Entschiedenheit, Willenskraft; will Argumente – aber Vorsicht: bisweilen rationalisieren wir uns ziemlichen Unsinn zusammen! – integrieren mit Gefühlen – doch auch diese können auf gute oder auf falsche Wege führen. Das Unterscheiden versucht, selbstkritisch von innen her Klarheit für Entscheidungen zu bekommen. Oft hat man nicht zu wählen zwischen gut und schlecht, sondern die Frage heißt: Wie zwischen zwei Guten das Bessere erkennen – also das, was mehr hilft für gute 2 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

und heilige Ziele? Hier geht es nicht mehr um Ethik – wie ich mich recht verhalten muss –, sondern um Wahl: Ich muss nichts, sondern ich darf und will frei das Bessere wählen. In Stille und im Gebet die Geister zu unterschieden, hilft dazu. Ein großartiges Gottesbild: Die „guten Geister“ sind zwar oft ganz profane Gefühle oder Gedanken, aber sie sind vom göttlichen, ja Heiligen Geist gegeben! Gott wirkt durch meine Gefühle! Durch meine Psyche sagt er mir, was gut ist für mich und andere, und was er von mir will – und das ist dasselbe! Ich muss es nur erkennen und tun. Übrigens versucht auch der „Abergeist“, durch die Psyche mich zu beeinflussen – seine Schliche soll ich aber durchschauen und abweisen, seinem Rat und Locken nicht folgen. Ignatius von Loyola, der Gründer der Jesuiten, hat die „Unterscheidung der Geister“ nicht neu erfunden, sondern er schöpfte aus alten Quellen: aus der Bibel, aus Kirchenvätern, aus dem Mittelalter. Aber er fasste die Grunderfahrung und ihre Regeln so genial zusammen, dass sein Ansatz für Jahrhunderte wirksam wurde. Heute befruchtet er unser geistiges und spirituelles Leben. Stefan Kiechle SJ 3 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/jordano

Was bewegt mich? Ignatius zeigt uns mit der „Unterscheidung der Geister“ einen Weg der Entscheidungsfindung auf, den ich für einen sehr modernen halte. Ganz der Aufklärung verpflichtet, verlangt er von uns Menschen, tief in sich selbst zu hören und dabei uneingeschränkt ehrlich zu sich zu sein. Niemand nimmt einem diese Mühe ab. Kein Engel oder Prophet gibt einem die Lösung, nein, der Mensch selbst muss sich nach Prüfung aller Möglichkeiten für einen Weg entscheiden und die Konsequenzen tragen. Das halte ich für eine sehr moderne Sichtweise, die dazu auch noch ein sehr positives Menschenbild in sich trägt. Folgender Satz aus den „Geistlichen Übungen“ ist hier für mich ausschlaggebend: „Es ist dem bösen Engel eigen, […] bei der frommen Seele einzutreten und bei sich selbst hinauszugehen; nämlich gute und heilige Gedanken zu bringen, wie es dieser gerechten Seele entspricht, und danach bemüht er sich allmählich, bei sich hinauszugehen, indem er die Seele zu seinen verborgenen Täuschungen und verkommenen Absichten zieht.“ (Nr. 332) Neben der heute etwas altmodischen Vorstellung eines bösen Engels, der in unsere Seele „eintritt“, geht Ignatius offenbar auch davon aus, dass der Mensch immer eine „gerechte Seele“ hat, d.h. eine in sich gute Seele, die um das Gute bemüht ist. Das erscheint mir zentral: Nicht, wenn das offensichtlich Böse kommt, wird der Mensch herausgefordert, sondern dann, wenn er grundlegende Fragen mit sich selbst klären muss. Dann besteht die Gefahr, dass sich der „böse Engel“ in die Seele selbst einnistet. Und dann ist es nicht mehr ohne weiteres möglich, gute Intentionen von bösen Handlungen zu unterscheiden. Jetzt ist es vor allem wichtig, dass der Mensch uneingeschränkt ehrlich zu sich ist, um das zu erkennen. Diese Überlegungen sind für mich persönlich sehr wichtig, weil sie mich dazu zwingen, mir nicht nur Handlungsmöglichkeiten zu überlegen, sondern auch die dahinterstehenden Motive offenzulegen. „Trost“ und „Misstrost“ sind hier die entscheidenden Schlagwörter: Was gibt mir (dauerhaften) Trost, und was erscheint auf den ersten Blick erst tröstend, um dann in Leid zu enden? Will ich wirklich das Beste für mich und die anderen oder habe ich das Wohl der anderen irgendwann aus dem Blick verloren? Es ist ein mühsamer Weg der Selbstbefragung, der einen aber auch 4 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! Menschen sind nicht von Natur aus böse.

stärkt, wenn man sich dieser Mühe unterzieht. Fast noch viel wichtiger erscheint mir dann noch die Überzeugung von der „gerechten Seele“ beim Umgang mit anderen Menschen; gerade bei solchen, bei denen ich nicht verstehen kann, warum sie so gemein zu anderen sind. Nimmt man Ignatius ernst, dann heißt das, auch diese Menschen haben „gerechte Seelen“, d. h. sie sind nicht von Natur aus böse. Das bedeutet, sie tun nicht böse Dinge, weil sie vermeintlich von Grund auf schlechte Menschen sind, sondern weil sie offenbar der Meinung sind, dabei das Richtige zu tun. Sie halten ihre Handlungen für gute Entscheidungen. Tatsächlich aber sind sie verborgenen Täuschungen ausgeliefert. Sie haben nicht ausreichend über ihre Motive nachgedacht. Sie suchen Trost in Dingen, die tatsächlich Misstrost verursachen. Würde ich zu solchen Leuten sagen „Du machst böse Dinge“, würden sie mich nicht verstehen. Ich muss vielmehr fragen: „Was ist es, was Dich glauben macht, dass Du Gutes durch Dein Tun erreichst?“ In meiner Erfahrung kommt man so ganz anders an Menschen heran, weil man sie in ihrem Denken ernst nimmt. Es gilt, die eigentlich gute Intention zu sehen, um dann zu klären, ob es nicht einen tröstlicheren Weg gibt, als der, den sie gerade gehen. Ich glaube, dass eine solche Herangehensweise dem Menschen deutlich angemessener ist, als sie in „gute“ und „böse“ Menschen zu unterteilen. Das wäre nämlich zu einfach, und das wusste schon Ignatius. Dina Brandt 5 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/uwimages

Wie schmeckt’s? In meiner Kommunität in Brüssel war regelmäßiges Kochen Pflichtprogramm, sonst hätte es schlichtweg kein Abendessen für uns gegeben. Ein schönes Hauptgericht und eine Vorspeise dazu, zum Beispiel. Und trotzdem habe ich mich gerne für zwei bis drei Stunden an den Herd gestellt: Ich fand es faszinierend zu beobachten, wie sich der Geschmack entwickelt. Ein Gericht hat viele Untertöne, genau wie der Alltag. Die ändern sich immer wieder und sind für einen neugierigen Menschen wie mich sehr interessant. Ich habe schon zu Beginn eine Vorstellung davon, wie es am Ende schmecken sollte. Nur dann kann’s so richtig losgehen mit den Vorbereitungen. Und hier setzt auch schon der Bruch mit meinem Alltag ein: Geschmack kann man nicht denken, man muss ihn spüren. Nach einem langen Tag im Büro braucht es plötzlich eine andere Art der Wahrnehmung. Die Gerüche setzen sich langsam zusammen zu einem Duft. Die Farben des Gerichts entstehen; nichts ist schlimmer als braune Brühe. Die Konsistenz entwickelt sich, so dass ich irgendwann mit Lust hineinbeißen kann. Kochen ist eine sensible Tätigkeit, aufmerksame Sinnlichkeit. Während des Kochens erinnere ich mich oft an Erlebnisse des vergangenen Tages, fast wie von selbst. Nicht nur: Was war heute? Sondern: Was hat mir gutgetan? Wie hat es mich angeregt? Wo bin ich ganz und gar darin vorgekommen? Wo war die gleiche Kreativität da wie jetzt? Welche Dinge passen zusammen, weil sie einen guten Geschmack ergeben — und wie war der? Und wovor wäre ich am liebsten davongelaufen? Es geht um das Gespür im Alltag und darum, wo ich mich hinbewege. Kochen gibt mir Zeit dafür. Irgendwann kommt dann der Moment, in dem das Gericht fertig ist, und die Frage: „Wie schmeckt’s?“ Na ja, hoffentlich gut. Aber ich frage die Leute gerne, was sie herausschmecken, wie sie das Gericht empfinden, was es ihnen sagt. Ich selbst freue mich und empfinde das Essen als gelungen, wenn sich am Ende eine Harmonie einstellt. Diese kann jedoch ganz unterschiedlich sein: aufregend und fast brennend; ausgewogen, voll und still; oder puristisch, auf die wenigen essentiellen Elemente beschränkt. Wie ich gerade koche, sagt oft etwas über meine Befindlichkeit in diesem Moment aus. Und wenn es gelingt, dann stellt sich mit dieser Befindlichkeit beim Essen eine ruhige Zufriedenheit ein, bei der es genügt, in dem Moment zu schmecken, zu riechen, zu schauen. Ich freue mich über einen schöpferischen Prozess, der zu einem guten Ende gekommen ist, weil er uns für etwas öffnet. Am schönsten ist es am Ende, das mit anderen zu teilen. Michael Schöpf SJ 6 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Am Anfang, in der Mitte und auf Dauer gut Die Geister zu unterscheiden habe ich gelernt, als mich vor dem Abitur die Frage bewegte: Welchen Beruf soll ich ergreifen? Mir kamen Vorbilder in den Sinn: Jurist werden wie mein Vater? Oder Arzt wie ein Onkel? Meine Gefühle blieben stumpf; ich verspürte keinen Antrieb. Windstille. Dann aber drängte sich mir eine Frage auf: „Wenn du am Ende deines Lebens zurückblickst, was möchtest du getan oder besser nicht getan haben, um in Frieden sterben zu können?“ Das war eine neue Perspektive. Die Windstille war vorbei. Eine weitere Frage stellte sich ein: „Was ist für dich so wichtig, dass du am Ende deines Lebens bereuen würdest, es nicht getan zu haben?“ Mit einem Schlag war ich hellwach. Eine erste Antwort stieg in mir auf, zögerlich und doch klar: „Wichtig ist dir Jesus Christus, wichtig für alle Menschen.“ Wieder Windstille, aber anders als zuvor. Ich spürte: Hinter diese Antwort kannst du nicht mehr zurück. Aber was hieß das konkret? Es dauerte nicht lange, bis eine weitere, noch fragende Antwort in mir aufstieg: „Sollst du vielleicht helfen, dass Jesus Christus für die Menschen von heute und morgen erreichbar bleibt?“ Ich spürte ein Zögern und eine Unruhe, doch ich konnte sie nicht abweisen. Sie wies in eine Richtung, mit der ich im Grunde einverstanden war. Aber noch war nicht klar, was ich konkret tun sollte. Die Klarheit kam dann wiederum in Form einer Frage, die meine Antwort schon enthielt. „Könnte es sein, dass du Priester werden sollst?“ Ich konnte nicht mehr nein sagen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ein frischer Wind erfasste mich: Es ging in die richtige Richtung. So willigte ich ein, Priester zu werden. Derselbe frische Wind wehte mich dann in die Arme der Gesellschaft Jesu. Damals kannte ich die Regeln zur Unterscheidung der Geister noch nicht. Heute weiß ich, dass ich damals einen Klärungsprozess durchlebt habe, der in seinem Anfang, in seiner Mitte und in seinem Ende, also bis zu meinem „Ja“ zum Priesterwerden, stimmig war. Das Stimmige habe ich (mit einem Wort des Exerzitienbuches) als „Trost“ empfunden. Aus dem Klärungsprozess wurde ein Bewährungsprozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Zwar war der Anfang stimmig, aber das Ende ist noch nicht erreicht. Die Mitte zieht sich hin. Ich bin noch unterwegs. Ich blicke zurück auf Zeiten lähmender Windstille und auf gefährliche Wirbelwinde; ich erlebte erfrischende Brisen, die mich jedoch vom Ziele ablenkten. Sie passten nicht zu der tröstenden Stimmigkeit des Klärungsprozesses. Dass ich den Unterschied manchmal nicht bemerken wollte, beschämt mich, dass ich ihn aber überhaupt bemerkt habe, macht mich dankbar. Wendelin Köster SJ 7 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Marathon oder Kurzstrecke? Wann gilt es durchzuhalten? Einfach ist es nicht. Manchmal braucht es auch einen kleinen Schupps, um durchzuhalten. Aber letztlich möchte er doch Arzt werden, und dazu braucht es eben ein Abitur, und auch Latein. Diese Worte eines Schülers klingen ehrlich. Er weiß, warum er das alles tut. Selbst wenn Latein jetzt nicht gerade sein Lieblingsfach ist, er lernt seine Vokabeln, um dranzubleiben und später, ja später da wird er einmal Arzt, so Gott will. Eine gute Entscheidung. Sie passt für ihn, und seine Entschiedenheit trägt ihn durch manche Tiefs. Ignatius würde sagen: „Er hat eine gute Wahl getroffen.“ Auch wenn dieser junge Mensch noch nichts von der Unterscheidung der Geister gehört hat, er hat aus seinem Inneren heraus, mit seinem Verstand oder Bauch, die für ihn richtige Wahl getroffen. Da ist mehr als ein kurzes Strohfeuer, eine Begeisterung, die schnell wieder verfliegt. Man spürt, die Sache ist ernst. Perseverantia, Ausdauer nennt es Ignatius. Wer eine Entscheidung, eine Wahl aus dem guten Geist getroffen hat, erlebt das. Im Alltag zeigt sich dann, ob die Entschiedenheit fortdauert. Übersteht sie die kommenden Tiefpunkte oder fliegt sie gleich bei der ersten Brise über Bord. Darum lädt Ignatius ein, sich bei wichtigen Entscheidungen Zeit zu lassen. Gerade in Krisenzeiten, und die bleiben bei einer langfristigeren oder gar Lebensentscheidung meist nicht aus, braucht es die Gewissheit, dass die Grundlage, die Basis stimmt. Keinen Schnellschuss also, dem man nicht nachkommt. Dann natürlich erst einmal diese Entscheidung leben, ausprobieren, bevor man gleich wieder eine Kehrtwende macht. Vertrau darauf, dass es gut ist, was Du entschieden hast, und schau zugleich, wie es Dir damit geht und wohin es Dich bringt. Ignatius würde auch auf die Nachhaltigkeit schauen. Selbst wenn dieser Begriff in diesem Zusammenhang nicht auftaucht, er passt sehr gut zu dem, was er beschreibt. Wie passt das Gewählte in das Gesamtkonzept meines Lebens? Wie wirkt es sich aus? Jetzt, und im Blick auf das Gesamt meines Lebens? Wie fühlt es 8 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! Sich bei Entscheidungen Zeit lassen und auf die eigenen Grenzen achten.

sich in diesem Augenblick an und vielleicht in fünf, zehn Jahren oder vom Ende meines Lebens her betrachtet? Nachhaltigkeit hat mit Ehrlichkeit zu tun. Hier gilt es sich zu fragen, auf welchen Zeitraum hin diese Entscheidung angelegt ist. Handelt sich um einen Sprint oder einen Marathonlauf? Eine gute Entscheidung aus dem Geist Gottes heraus achtet die Grenzen und die eigenen Ressourcen. Das weiß Ignatius zu gut aus seiner persönlichen Erfahrung. Zuviel des Guten hat ihn selber an den Rand seiner Existenz gebracht. Gut gemeinte Ideale, die nicht zur eigenen Lebensausstattung passen, werden schnell zu einem Idol, das das Leben kostet. Oftmals begleiten dann Verbissenheit und der Geschmack von Verbitterung ein solches Leben. Da ist wenig von Fruchtbarkeit spürbar. „Du hast mich betört, und ich ließ mich betören“, so schreibt der Prophet Jeremias. Er weiß, dass seine Existenz von außen her betrachtet verrückt ist. Aber er spürt auch, dass er nicht anders leben kann. Dieses Ja zu seiner Berufung ist sein Leben. Auch wenn er wie ein unruhiger Geist umherzieht und die Menschen aufrüttelt, so spürt er doch in seinem Innern einen tiefen Frieden. Ignatius würde dies als Zeichen eines guten Geistes sehen: Andauernder innerer Frieden, innere Freiheit und Gelassenheit, tragende Freude und ein Mehr an Leben für mich und andere. So kann Alfred Delp SJ später einmal aus dem Gefängnis schreiben: „Wir sterben, damit andere einmal besser leben.“ Selbst wenn er und all die Märtyrer ihr Leben gegeben haben, so wirkt dieser Tod als Lebensgrundlage bis in unsere heutige Zeit hinein. Claus Pfuff SJ 9 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/Mikael Damkier

Trost und Trauer Vom Umgang mit der Traurigkeit Ein geliebter Mensch ist gestorben – diejenigen, die zurückbleiben, trauern um ihn, sie fallen in ein Loch, es zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg, ein Gefühl der Sinnlosigkeit kann sich breitmachen. Vielleicht auch ein schlechtes Gefühl: Ich glaube doch, dass der/die Verstorbene bei Gott ist, darf ich da so trauern? Trauer ist nicht gleichzusetzen mit Trostlosigkeit – der Verlust eines geliebten Menschen führt in die Trauer, die sich in den oben beschriebenen Regungen zeigen kann. Und diese Trauer gehört zum Leben – aber wir haben heute häufig verlernt, wie wir sie leben können. Eine häufige Reaktion von Familie und Freunden: „Ruf an, wenn wir helfen können….“ Oder: „Such Dir etwas, was Dich ablenkt“, „Du musst wieder mehr nach draußen gehen“, „Komm doch mit uns, wir machen einen Ausflug“ … Versuche, den Trauernden von dem Verlust und dem Schmerz abzulenken. Die Reaktion von Trauernden auf diese gut gemeinten Versuche ist oft ein Gefühl der Verwirrung, der Hilflosigkeit. Einerseits sieht man den Willen zu helfen – aber man ist nicht in der Lage, diese Art von Hilfe anzunehmen. Es fühlt sich nicht richtig an, überfordert – führt in Trostlosigkeit. Die eigene innere Regung des Trauernden ist zunächst oft Rückzug, man braucht Zeit um den Toten zu beweinen, das Geschehen um den Tod wieder und wieder zu erinnern, um ihn zu begreifen. Trauer und Schmerz wollen durchlebt werden. In unserer Kultur brauchen Trauernde manchmal die „Erlaubnis“ zu trauern, statt zu funktionieren. Das heißt für den/ die Trauernden dem eigenen Gefühl, dem Bedürfnis nach Rückzug, der Trauer zu folgen, sich nicht selbst zu überfordern mit dem Versuch „stark“ zu sein und sich nicht überfordern zu lassen. Trauernde, die sich um eine Familie kümmern – die Kinder müssen weiter in die Schule etc. – oder solche, die berufstätig sind, stellen fest, dass diese Anforderungen ihrem Tag eine Struktur geben, ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen. Bei dieser Struktur zu bleiben – oder sich selbst eine zu schaffen – mit Ignatius gesprochen „fest und beständig“ im Alltag zu stehen, sind hilfreich im Umgang mit der Trauer. Alleinstehende haben es da oft schwerer, sich eine Struktur zu geben, aber genau das ist ein Weg, sich gegen die Trostlosigkeit in der Trauer zu wehren (Geistliche Übungen 318). Es könnte auch heißen, sich Begleitung in der Trauer zu suchen – eine Person, die immer und immer wieder da ist, um zuzuhören, die Trauer mit aus10 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

11 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! zuhalten. Für Glaubende heißt das auch, die Klage, die Trauer und die Zweifel vor Gott auszusprechen und ihn um Trost zu bitten (319). In Trostlosigkeit in Geduld auszuharren (321) heißt, die individuell unterschiedliche Länge des Trauerweges anzunehmen und zu gehen – ohne Druck und Hast, aber mit Hoffnung: „Er denke, dass er rasch getröstet werden wird.“ (321) Und plötzlich führt der Alltag oder die Erinnerung an bestimmte Begegnungen mit dem Verstorbenen wieder zu einem Lachen, man fängt wieder an, Freude an Begegnungen zu haben – und erschrickt zunächst und kann sich dann zunehmend darüber freuen. Im Lauf des Trauerweges ändert sich das Verhältnis zum Verstorbenen – zu dem Gefühl des Verlustes kommt auch die Erinnerung an die verstorbene Person, an das, was man miteinander geteilt hat, was durch sie geschenkt wurde, das eigene Leben bereichert hat und immer noch bereichert. Das Geschenk des Trostes (322 und 323) wird bewusst und ermöglicht es, in Phasen des Rückfalls in die starke Trauer ruhig zu bleiben und nicht zu verzweifeln, sondern im Vertrauen weiter zu gehen. Monika Uecker CJ © Fotolia/Sergio Martinez

Zuviel des Guten Schon Ignatius musste am eigenen Leibe schmerzhaft erfahren, dass sein spirituelles Grundanliegen, mehr („magis“) mit Gott zu leben, nur allzu leicht missverstanden werden kann. Das Verlangen, mehr tun oder leisten zu müssen, kann die berühmte „Versuchung unter dem Schein des Guten“ sein. Wenn mir meine guten Absichten und Pläne dauerhaft den Schlaf und damit letztlich meine Gesundheit rauben, um sie schließlich umsetzen zu können, dann ist dies ganz sicher nicht im Sinne unseres Schöpfers. Ein Zuviel des Guten ist nämlich nie besser, sondern meistens schlecht. Und was mich permanent überlastet und über meine Kräfte geht, was mir die Motivation entzieht und die Freude an der Berufung raubt, das kann letztlich nicht dem Willen Gottes entsprechen. Die Kunst besteht darin, dies zu erkennen und den Versucher, der sich gerne als „Engel des Lichts“, als Luzifer, verkleidet, zu enttarnen. Je mehr ich mich also verausgabe, desto mehr muss ich auf die nötige Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Aktion und Kontemplation achtgeben. Je mehr zu tun ist, desto mehr ist das regelmäßige Abschalten (offline!) und eine gewisse Distanz notwendig und heilsam. Je länger die „to do“-Liste auf meinem Schreibtisch wird, desto wichtiger ist es, dass ich mir für die Unterscheidung Zeit nehme, was Priorität und was noch Zeit hat, was nebensächlich ist und worin eigentlich die Hauptsache besteht. Dabei lauern jede Menge Fallstricke: Denn am „Zuviel“ kann man sogar Freude haben, als wenn der Dauerstress und die permanente Überlastung zum eigenen Selbstbild gehört. Vielleicht verbergen sich auch unbewusst andere Motivationen hinter meinem Verlangen, von diesem oder jenem „mehr“ tun zu müssen. Um Gefährdungen und Grenzen früh genug erkennen zu können, ist es ebenso wichtig, um die eigenen Schwachstellen zu wissen, wie auch die Energiereserven und Kraftquellen zu kennen. Es ist ja möglich, weniger Zeit zu arbeiten, ohne gleichzeitig Aufgaben vernachlässigen zu müssen, und Pausen einzulegen, ohne anschließend doppelt so viel tun zu müssen, oder Nein zu sagen, ohne Andere vor den Kopf zu stoßen. Das Sprechen über solche Fragen mit einem guten Begleiter ist immer hilfreich. Geistlich gesehen, hat es auch etwas mit meinem (Klein-)Glauben zu tun, wenn ich meine, alles selbst erledigen zu müssen und es mir schwerfällt, Dinge anderen anzuvertrauen. „Die aber, die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft, sie bekommen Flügel wie Adler. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.“ (Jes 40,31) Martin Stark SJ 12 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

System Je nachdem? In der Betrachtung von der Menschwerdung lädt Ignatius, die Menschen auf der ganzen Erde ein, zu meditieren, „in so großer Verschiedenheit sowohl der Kleidung wie des Verhaltens…“ (Geistliche Übungen 106). Die eine Antwort auf alles Elend der Welt, die Mensch gewordene Barmherzigkeit Gottes, muss in sehr verschiedene Kontexte übersetzt werden, wenn sie verstanden und angenommen werden soll. „SJ - System Je nach dem“ spöttelt man bis heute, ohne zu würdigen, dass jesuitische Flexibilität in der Unterscheidung der Geister wurzelt und kein Hinweis auf mangelnde Standfestigkeit ist. Schon Ignatius hat bittere Erfahrungen mit Kirchenoberen gemacht, die humorlos reagierten, wenn er und seinesgleichen (zu) sehr auf den Geist und „die Unterscheidung“ vertrauten und sich bei ihrem Handeln darauf beriefen. Gab es nicht für alles schriftliche Regeln der Hierarchie?! Die um Inkulturation der christlichen Botschaft in Indien bemühten Jesuiten mussten herbe Maßregelungen hinnehmen, die das Wachstum der Kirche vor Ort für Jahrhunderte blockieren sollten. Heute postuliert ein jesuitischer Papst: „Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“ Für Ignatius selbst war es typisch, den Mitbrüdern sehr detaillierte schriftliche Anweisungen für ihre Mission mit auf den Weg zu geben. Wenn die Verhältnisse dann vor Ort aber so waren, dass es den Gefährten ratsam erschien, seine Anweisungen nicht zu befolgen, vertraute er darauf, dass sie andere und für die Situation angemessenere finden würden. So wichtig Ignatius seine Kirchlichkeit, zumal der Gehorsam gegenüber Sendungen des Papstes, war, hat er Konflikte nicht gescheut, wenn er tief davon überzeugt war, damit der Kirche zu dienen. Der Titel eines Buches ist denn auch: „Das dramatische Kirchenverständnis des Ignatius“ (Schwager). Köstlich zu lesen in einem seiner Briefe: „Wenn Gott der Herr nicht die Hand dazwischen hält, werden wir Magister Laynez (einer der ersten Gefährten) als Kardinal haben. Aber ich versichere Euch, dass es dann mit soviel Lärm geschieht, dass die Welt versteht, wie die Gesellschaft (Jesu) solche Dinge annimmt.“ Gerade in Fragen der Seelsorge tun wir Jesuiten uns schwer mit jeder Form von Legalismus. Persönlich erinnere ich mich oft an den letzten (!) Paragraphen des Kirchenrechtes (CIC) über Versetzungen von Pfarrern, in dem es heißt, man möge „das Heil der Seelen vor Augen [haben], das in der Kirche immer das oberste Gesetz (!) sein muss.“ Stefan Dartmann SJ 13 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Typische Fallen und mögliche Hilfen Was Menschen davon abhalten kann, den guten eingeschlagenen Weg in Ruhe und Frieden zu gehen, ist so vielfältig wie die Menschen selbst. Die wichtigsten Fallen sind Täuschungen in Bezug auf sich selbst, auf die äußere Realität, auf die Mitmenschen und nicht zuletzt in Bezug auf Gott. In meiner Arbeit in der Kontaktstelle der Katholischen Kirche für Lebens- und Glaubensfragen in Leipzig erlebe ich als Seelsorgerin am häufigsten die Täuschungen in Bezug auf das eigene Selbst. Aus diesem Grund beschränke ich mich hier darauf und nenne einige Beispiele und mögliche Hilfen. Die Selbsttäuschung zeigt sich in zwei entgegengesetzten Versuchungen: Manchmal besteht sie darin, dass man im eigenen Ego nur das Gute sieht und nicht wahrnehmen will, dass das eigene Innere auch Schwächen, Gefährdungen und dunkle Seiten enthält. Schuld wird in unserer Leistungsgesellschaft oft verdrängt, verschwiegen und ausgeblendet. Die andere Seite der Täuschung besteht darin, dass man, weil man die eigenen Schwächen als übermächtig erlebt, jede Hoffnung auf eine Verbesserung des eigenen Lebens verloren hat. Oft geht diese Haltung dann mit einer grundsätzlichen Ablehnung nicht nur der eigenen Person, sondern auch mit der Ablehnung der Außenwelt und Gottes einher. Eines der einfachsten und treffendsten Beispiele für die Vermeidung der Selbsterkenntnis ist die Erfahrung, die wir im Raum der Stille in der City von Leipzig machen: alle Menschen suchen die Stille und loben den Raum. Doch wenn sie dann tatsächlich einmal – und sei es nur für 25 Minuten – still sein sollen, sind viele überfordert und hilflos. Sie werden unruhig, empfinden Gefühle wie Sorgen, Ungewissheit und Angst viel stärker als sonst, und manche reagieren gar mit Schmerzen. Oft haben diese negativen Gefühle mit der Selbsteinschätzung zu tun: sobald man untätig ist, wackelt das eigene Selbstbild. Ich rate den Menschen, trotz dieser Schwierigkeiten die Stille zu suchen. Die christliche Tradition würde wohl von einem entschiedenen „agere contra“ sprechen. Im Raum der Stille will Pater Bernd Knüfer den Menschen Hilfen an die Hand geben, wie sie mit den „Dämonen“ umgehen können, die sich in der Stille zeigen. Als ein Beispiel nenne ich den Einsatz von guten, aufbauenden Texten, an denen sich 14 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/furtseff Seine Schwächen nicht verbergen, sondern einem geeigneten Menschen offenbaren.

15 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! die Menschen aufrichten können und auf die sie ihre umherschwirrenden Gedanken richten können. Auch das Glaubensgespräch in der Gruppe kann eine Hilfe zur Förderung der Selbsterkenntnis sein. So kommen viele der Glaubensschüler auch nach ihrem Fest (Taufe, Konversion usw.) noch wochen- oder monatelang weiterhin zum Glaubensgespräch. Sie spüren, dass sie den eingeschlagenen guten Weg nicht ohne Unterstützung gehen können und suchen Gleichgesinnte. Gleichzeitig ist im Kurs klar, dass jeder Teilnehmende seinen eigenen Weg geht und man nicht auf Dauer dabei ist. Diese Struktur ermöglicht eine große Ehrlichkeit und Offenheit. Diese Ehrlichkeit hat Ignatius vielleicht gemeint, wenn er rät, dass man seine schwachen Stellen nicht verbergen solle, sondern dass es gut ist, sie einem geeigneten Menschen zu offenbaren. In Einzelgesprächen kommt es vor, dass Menschen sich selbst nicht als etwas grundsätzlich Positives wahrnehmen können. Es fehlt an einer Bejahung der Realität, die immer grau ist, statt schwarz, und an Selbstannahme im Angesicht Gottes. Hier sehe ich es als meine Aufgabe als Seelsorgerin, ihnen durch geduldiges Zuhören und Mitdenken zu zeigen, dass ich sie nicht verurteile. So hoffe ich, dass in ihnen der Glaube an den gütigen Gott wächst. Susanne Schneider MC

Einfach umsetzen? Während eines Auslandsaufenthaltes in Kanada habe ich vor vielen Jahren ignatianische Exerzitien gemacht und nach allen Regeln der Kunst eine Entscheidung getroffen. Sie hat den Kontakt mit der Welt außerhalb der Exerzitien nicht einmal zwei Wochen überlebt und ist dann in hohem Bogen über Bord geworfen worden. Damals hatte ich überlegt, ob ich das Konzept der Unterscheidung der Geister nicht richtig verstanden habe oder dafür nicht tauge oder einfach zu träge und inkonsequent im Alltag bin. Auf jeden Fall hat die so schnell gescheiterte Umsetzung einen enttäuschenden und bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Heute würde ich sagen, dass ich in so ziemlich alle Fallen getappt bin, die es bei der Umsetzung von getroffenen Entscheidungen gibt. Falle 1: Die Macht der Anpassung Im Alltag leben wir in einem Geflecht von Beziehungen und Verpflichtungen. Die Umsetzung von Entscheidungen betrifft in der Regel nicht nur mich allein, sondern hat Auswirkungen auf mein privates oder berufliches Umfeld. Und das ist meistens nicht indifferent, sondern bestärkt oder verunsichert die getroffene Entscheidung. Was bei Exerzitien selbstverständlich ist, braucht es auch für die Unterscheidung der Geister im Alltag: den Rückzug in Momente der Stille und Reflexion. Das sind Zeiten und Orte, in denen das Umfeld nicht im Vordergrund mitmischt. Die Umsetzung der Entscheidung geschieht jedoch mittendrin in diesem Umfeld. Die Kunst liegt darin, meine Entscheidung nicht vorschnell an die vermeintlichen oder tatsächlichen Erwartungen der anderen anzupassen, sie aber auch nicht komplett auszuschließen und zu versuchen, die Umsetzung im sturen Alleingang durchzuziehen. Falle 2: Die innere Ungeduld Selbst wenn bei der getroffenen Entscheidung die inneren Stimmen des Kopfes und des Herzens in einem Gleichklang waren, können sie bei der Umsetzung wieder in unterschiedliche Richtungen laufen wollen. Vielleicht prescht das Herz ungeduldig vor, während der Kopf noch die genauen Umsetzungsschritte erwägt. Oder der Kopf hat längst Fakten geschaffen, während das Herz noch der nicht gewählten Alternative nachtrauert. Jede innere Stimme hat bei der Umsetzung ihren eigenen Rhythmus und ihr eigenes Tempo. Da hilft manchmal nur Geduld mit sich selbst, damit in der Umsetzung alle inneren Kräfte beteiligt bleiben. Falle 3: Ewig aufschieben Morgen fange ich damit an, mein Leben zu ändern – großes Ehrenwort! Aber leider ist dann doch wieder etwas anderes dazwischen gekommen. Mittlerweile ist es fast Mode, ein so genannter procrastinator (Zauderer) zu sein, und viele reagieren mit verständnisvoller Empathie, weil sie diese Falle nur zu gut kennen. Für die Umsetzung einer getroffenen Entscheidung ist das ewige Aufschieben fatal. Es führt zu einem schlechten Gewissen, das dadurch beruhigt wird, lauter gute Argumente zu 16 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

finden, warum es eigentlich genau richtig ist, mit der Umsetzung noch nicht begonnen zu haben. Und ehe man sich versieht, steckt man schon in der Dauerschleife des Konjunktivs: ich müsste, ich könnte, ich sollte. Hier kann helfen, die Umsetzung in konkrete Schritte zu unterteilen, von denen jeder für sich betrachtet recht banal aussieht. Das verringert die Furcht vor dem Beginn. Falle 4: Es liegt allein an mir Die Unterscheidung der Geister geschieht im Gebet, im Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Trost und innerer Frieden sind Anzeichen dafür, dass mich die getroffene Entscheidung näher zu Gott führt. Auch in der Umsetzung wird er mich nicht allein lassen. Auch hier darf ich Vertrauen und Gelassenheit haben. Vielleicht scheitert mein Plan der Umsetzung. Das heißt nicht unbedingt, dass die getroffene Entscheidung falsch war oder ich versagt habe. Es kann sein, dass der Weg der Umsetzung ein anderer und längerer ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Das Gespür für die innere Ausrichtung bleibt bei jedem Schritt notwendig. Judith Behnen 17 © Fotolia/stikkete Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Die Unterscheidung der Zeitgeister Ein Dienst der Kirche an der Welt Die Praxis der Unterscheidung der „Zeichen der Zeit“ bzw. der „Zeitgeister“ kann auf eine lange christliche Tradition verweisen, deren Wurzeln bis in die Bibel selbst zurückreichen (z.B. Lk 12,54-57). Angesichts dieses Befunds kann es schon fast selbst als ein Zeichen der Zeit gelten, dass bei Einführungen in die Spiritualität der „Unterscheidung der Geister“ („Unterscheidung“) diese soziale und politische Dimension christlichen Gebetslebens oft wie selbstverständlich unter den Tisch fällt. Es stellt eine Verkürzung christlicher Existenz dar, wenn man z.B. meint, dass eine „Unterscheidung“ etwas rein nach innen Gerichtetes und ganz „Privates“ ist, das am besten in Stille und größtmöglicher Abgeschiedenheit von der Welt geschieht. Natürlich teilt sich Gott auch in den verschiedenen Regungen und Bewegungen des eigenen Seelenlebens mit. Doch für Ignatius von Loyola ist eine Sache glasklar: Eine genuin christliche „Unterscheidung“ ist eingebettet in den konkreten Sozialraum der Kirche und fragt danach, wie und wo man als Mitglied dieser Gemeinschaft sie am besten in ihrer Aufgabe unterstützen kann, den Heilswillen Gottes in und für diese Welt in der Geschichte gegenwärtig zu machen. Die Zeitgeister adäquat unterscheiden kann man also nur, wenn man zunächst die Augen aufmacht und die gesellschaftlichen Realitäten betrachtet, in denen man lebt. Sodann gehört zur Unterscheidung die Bereitschaft, diese Kultur darauf hin zu bewerten, wie sie sich zum kirchlichen Auftrag der Verkündigung und Realisierung der Herrschaft Gottes auf Erden verhält (z.B. im Rückgriff auf die Kriterien und Normen, die in der katholischen Soziallehre entwickelt worden sind). Wie geht nun eine solche Unterscheidung der Zeitgeister praktisch? Sie funktioniert analog zu einer Unterscheidung der Geister im eigenen Seelenleben und kann in zwei Schritten beschrieben werden: Zunächst gilt es zu fragen, ob die sich anbietenden gesellschaftlichen oder politischen Handlungsoptionen überhaupt wählbar sind. Nehmen wir z.B. die aktuelle Flüchtlingsproblematik. Aus dem Bereich möglicher politischer Antworten auf dieses Problem scheiden z.B. klar jene Optionen aus, die rassistische Implikationen haben oder ein generelles Menschenrecht auf Asyl in Frage stellen. Heute erscheint uns das 18 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/picturegarden Mit offenen Augen auf die gesellschaftlichen Realitäten schauen.

(fast) selbstverständlich. Ein Blick auf die jüngere Kirchengeschichte zeigt aber, dass die Kirche immer wieder mühsam lernen muss, die Zeitgeister zu prüfen: Heute irritiert uns z.B., dass man auf der einen Seite lange die Idee der Menschenrechte und speziell der Religionsfreiheit als modernen Zeitgeist verteufelte, während man auf der anderen Seite zu lange brauchte, um als Institution dem Zeitgeist des Nationalsozialismus entschieden und konsequent entgegenzutreten. In einem zweiten Schritt kann dann gefragt werden, welche der wählbaren Optionen „mehr“ der Realisierung des Heilswillens Gottes für die Welt entspricht. Hier können gesellschaftliche Stimmungen und Emotionen wie z.B. „Wut“ oder „Empörung“ wichtige Indikatoren dafür sein, wonach sich Gott durch die Herzen der Menschen guten Willens hinsehnt. Doch auch hier gilt es, noch einmal zu unterscheiden: Sind diese Emotionen „geordnet“, d.h. zielen sie auf die Realisierung von etwas Gutem oder Schlechtem ab? Angesichts so mancher gesellschaftlicher „Erhitzung“ (Stichwort: Pegida etc.) besteht der wichtigste Dienst einer christlichen Unterscheidung der Zeitgeister aber in einem „regulativen Nonkonformismus“. Mit Martin Luther King gesprochen: Wir sollten als Christen nicht einfach Thermometer sein, die die Temperatur der Mehrheitsmeinung anzeigen, sondern vielmehr Thermostate, die die Temperatur in einer Gesellschaft ändern und regulieren können. Patrick Zoll SJ 19 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

Ein frommes Coaching? Als professioneller Unternehmensberater und ehrenamtlicher Geistlicher Begleiter sammle ich immer wieder wertvolle praktische Erfahrungen mit der Unterscheidung der Geister. Säkulare und geistliche Begleitprozesse haben viele methodische Gemeinsamkeiten. Es gibt aber auch einen wesentlichen – metaphysischen – Unterschied. Im Exerzitienprozess ist die „Unterscheidung“ eingebettet in einen Trialog zwischen Gott, meiner BegleiterIn und mir (Geistliche Übungen 15). Dabei spüre ich meinen inneren Bewegungen mit Blick auf Christus und im Gespräch mit Gott nach. Auch beim säkularen Beratungsgespräch geht es um ein unterscheidendes Wahrnehmen. Die beim Coaching mitunter angewandte Transaktionsanalyse kennt die störenden „Aber-Geister“ als blockierende „Script-Muster“: Diese Drehbücher innerer Haltungen und Einstellungen werden in der frühen Kindheit in gewissen Kontexten „geschrieben“. Im Erwachsenenalter – beispielsweise in Stresssituationen – können diese Rollen und Muster jedoch freies und mündiges Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln blockieren. Durch Fragen eröffnet der Coach Lösungsräume: Ist dieses Muster hilfreich oder blockiert es dich? Was würde dir in dieser Situation mehr – magis! – nützen? Welche „ungeordnete Anhänglichkeit“ könntest Du loslassen? Dabei können auch Glaubenserfahrungen als Ressource dienen. Bei Workshops arbeite ich gerne mit einfachen Persönlichkeitsmodellen. Diese können TeilnehmerInnen dabei helfen, eigene Steuerungsmuster besser wahrnehmen, unterscheiden und hinterfragen zu können. Die wichtigste Erkenntnis dabei ist, dass personale Typenstrukturen und Muster überhaupt existieren und mit ihrem Auftauchen immer zu rechnen ist. Ist die „Unterscheidung“ also bloß Coaching mit religiösem Vokabular? Ist Gott doch nur ein „frommer Zusatz“, der im Prozess selbst aber keine wesentliche Rolle spielt? An diesem entscheidenden Punkt wird ein wesentlicher Unterschied klar: Systemisches Coaching betont eine wirklichkeitskonstruktive Perspektive, d.h. ich selbst kann störende Muster erkennen, verbessern und auflösen. Dabei kommt es – radikal – nur auf mich an. Ein solcher Coaching-Ansatz belässt die letzte Berechenbarkeit und Machbarkeit – auch unter dem Kriterium der Nützlichkeit (Beruf, Kar20 Schwerpunkt Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden!

riere) – bei meinem Ego. Kann eine solche „radikale Selbsterlösung“ gelingen? Würde ich mich dabei nicht selbst überfordern? Ignatianisch verstandene „Unterscheidung“ geht davon aus, dass es der lebendige Gott selbst ist, der sich mir in Liebe und Gnade mitteilt. Seine gestalterische und erlösende Liebe und Gnade formt die Wirklichkeit – einschließlich meiner selbst – um. Ich muss nicht alles alleine machen: Denn Gott arbeitet und müht sich für mich (Geistliche Übungen 236). Als von Gott Umgeformter und neu Gestalteter – nun erlöst von den Einflüsterungen der Aber-Geister – kann ich die Wirklichkeit befreiter und gelassener erfahren und selbst mitgestalten. Allzu radikal verstandener Konstruktivismus führte doch wieder nur zur Vertauschung der Rollen von Schöpfer und Geschöpf. Wende bei dem, was du tust, alle Mühe so an, als ob du nichts, Gott allein alles tun werde, rät Ignatius. Ich darf mit der Unterstützung Gottes glaubend und hoffend „rechnen“, sofern ich die Rechnung nicht vollkommen alleine aufstelle. Gott ist mehr als nur eine „Variable“ meiner Kalkulation. Aufgrund dieser letzten Unverfügbarkeit und Unverzichtbarkeit Gottes hält Ignatius das regelmäßige Gebet bei der „Unterscheidung“ auch für so wichtig. Nach der „Unterscheidung“ lasse ich mir Zeit und biete die mir geschenkten Einsichten zur Überprüfung und Bestätigung Gott immer wieder im Gebet an. Das hat der begnadete „Coach“ Ignatius sein Leben lang selbst sehr konsequent eingeübt und uns nachdrücklich ans Herz gelegt. Michael Neumayer 21 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! © Fotolia/stokkete

St. Michael Sein Name ist eine Frage. Das hebräische Mi – cha – el bedeutet: Wer ist wie Gott? Er ist Geschöpf Gottes wie wir Menschen. Er gründet seine Existenz darin, dass er sein Geschaffensein anerkennt. Michael ist personales Zeichen der Entschiedenheit für Gott, für sein Reich der Wahrheit, des Lichtes und der Güte. Er ist damit auch Prototyp der durch Unterscheidung gereiften Freiheit. Die Gegenfigur ist Luzifer. Auch er ein Geschöpf Gottes. Sein Name: „Lichtträger“, doch das göttliche Licht verdunkelt sich in ihm, die ursprüngliche Schönheit verblasst, er wird hässlich. Warum? Weil er sich selbst zum Zentrum macht. Er verkrümmt sich in sich selbst. Das Böse zeigt sich als um sich selbst kreisendes Ego mit all den mörderischen Folgen, die ein solches Lebenskonzept persönlich und gesellschaftlich nach sich zieht. Die älteste Ikonographie zeigt von Michael nur das hoheitsvolle Antlitz, das den göttlichen Glanz widerstrahlt. Mit der Zeit bekommt er Flügel, um ihn als geistiges Urwesen zu markieren. Als Bote Gottes wird ihm ein Stab gegeben, der zum Kreuzstab wird. Schließlich wird der Stab zur Lanze oder zum Feuerschwert. Dies sind Ausdeutungen seiner geistigen Souveränität, seiner Entschiedenheit, die auch im Symbol der Waage zum Ausdruck kommt. Der Patron der Münchner Jesuitenkirche – eine Bronzeplastik von Hubert Gerhard (1588) - steht zentral zwischen den beiden Portalen in einer streng geformten Rundbogennische mit betonten Horizontal- und Vertikallinien. Der Engel bringt die Diagonale ins Spiel, vor allem durch Lanze und rechten Flügel. Die gekreuzte Stola vor der Brust betont ebenfalls diese Linie. Sie bildet den x-förmigen Lauf der Sonnenbahnen zwischen der Frühlings- (21.3.) und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche (21.9.) ab. Michael symbolisiert die kosmische Macht des Lichtes. Deshalb wirkt er so überlegen, so elegant. Fast spielerisch steht er über dem darniederliegenden Teufel. Sein Blick ist streng und konzentriert, aber das Gesicht bleibt anmutig. Mit großer Ruhe und Überlegenheit wird hier der Sieg des Guten über das Böse und Hässliche dargestellt. Auf dem Gemälde des Hochaltars steht der Kirchenpatron jedem Besucher der Kirche sofort vor Augen. Der geflügelte Erzengel nimmt seinen Widersacher in den Blick und schreitet über ihn hinweg. Luzifer stürzt ab. Seine Finger, die sich zu Krallen auswachsen, die Bockshörner an den Schläfen, Haare, die zu Schlangen werden, der hahnenkammartige Flügel hinter dem Kopf, die hingestreckte Gestalt mit den gespreizten Beinen, der feuerspeiende Mund – all das deutet an, was diesem Wesen zum Verhängnis wurde: Stolz, verkrampftes Haben- und Genießenwollen, Falschheit und Lüge. 22 Jesuiten n Juni 2015 n Gott will es? Unterscheiden! Geistlicher Impuls

Dabei sieht Luzifer dem heiligen Michael noch entfernt ähnlich. Sie gehörten als höchste Engel zusammen. Michael allein verdiente eigentlich den Namen „Lichtträger“ (=Luzifer). Er kommt aus dem Lichtglanz Gottes und überwindet das Dunkel und die Qual, die Luzifer verschlingen. Seine „Waffe“ ist der Kreuzstab. Er ist Bote jener Liebe, die bis ans Kreuz geht, einer Liebeskraft, die Bosheit durch Güte besiegt. Ein Kreuzdiadem ziert Michaels Stirn und bestimmt sein Denken. Sein Untergewand weist hin auf das reine Blau des Himmels, sein wehendes Obergewand in Rot auf leidenschaftliche Hingabe, der weiß-goldene Schal umrahmt ihn wie ein Heiligenschein. Der Wind von Gottes Geisteskraft treibt ihn an. So sieht ein Geschöpf aus, das ganz auf den Gott und Vater Jesu Christi ausgerichtet ist und zu Recht „Michael“ (=Wer ist wie Gott?) heißt. Der Maler Christoph Schwarz hat 1587/88 der völlig neuartigen Jesuitenkirche ein modernes Michaelsbild geschenkt. Das Ur-Drama jedes Menschen ist hier in Szene gesetzt: Lichtglanz und Dunkel wohnen in uns allen. Wir sind gerufen, das göttliche Licht zu erkennen, uns vom wahren Licht locken zu lassen und die glitzernden Finessen des Bösen zu durchschauen. Wir tragen das Licht Gottes durchs Leben, indem wir das Kurzschlüssige, Verdrehte und Böse durch die Kraft des Guten überwinden. Karl Kern SJ © SJ-Bild

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