• Bild: Christine Fenzl

MHG-Studie: Mertes fordert Konsequenzen

Freiburg (KNA) - Für den Jesuiten Klaus Mertes dokumentiert die neue Studie zu Missbrauch im Raum der katholischen Kirche erschütternde Fälle. Und sie zeigt Strukturen auf, die Missbrauch begünstigen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Dienstag in Freiburg blickt Mertes auf nötige Konsequenzen voraus: So müssten beispielsweise immer die Betroffenen im Mittelpunkt stehen. Zugleich wendet sich Mertes, der seit 2010 eine entscheidende Rolle bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in katholischen Schulen übernahm, gegen Angriffe auf Papst Franziskus unter dem Deckmantel vermeintlicher Aufklärung.

KNA: Pater Mertes, was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Erkenntnisse der Studie?

Mertes: Die Untersuchung untermauert mit kompaktem Zahlenmaterial, was wir eigentlich schon wissen: Dass wir bei den bisher bekannt gewordenen Missbrauchsfällen nur den Gipfel eines Eisbergs sehen. Sehr wichtig ist, dass die Untersuchung auch das Thema des Vertuschens angeht. Das Versagen der Institution ist für Opfer mindestens genauso schmerzlich wie die sexualisierte Gewalttat selbst.

KNA: Sind diese Missbrauch begünstigenden Strukturen nun aufgedeckt?

Mertes: Wünschenswert wäre, dass die Prozesse des "Vertuschens" noch genauer analysiert werden; das fängt bei den Vertuschern an, bei den "blinden Führern", die nicht begreifen, dass sie blind sind, bis hin zu denen, die zynisch und bei vollem Bewusstsein den Institutions- und Täterschutz vor den Opferschutz stellten - und heute noch stellen.

KNA: Welches Bild von Tätern ergibt sich aus der Untersuchung?

Mertes: Die Studie zeigt in 96 Fällen, dass und wie systematisch Täter vorgehen, so dass auf einen Täter dann weit mehr als nur ein Opfer kommt, in manchen Fällen sogar über hundert. Besonders erschütternd ist auch der Hinweis auf das Fehlen von Einsicht und Reue bei so vielen Tätern. Die Studie bringt zudem ans Licht, dass es unterschiedliche Aufklärungsbereitschaft in den Diözesen gibt.

KNA: Was sollten aus Ihrer Sicht nun - vor allem im Sinne der Betroffenen - die nächsten Schritte sein? Beispielsweise, wie die Studienautoren vorschlagen, über den Zölibat nachzudenken?

Mertes: Ich stehe mit Opfern in Kontakt, die mir sagen, dass sie die ganze kirchenpolitische Debatten um Zölibat etc. stört, weil sie als Betroffene damit wieder aus dem Blick geraten. Insofern steht am Anfang aller Bemühungen der Kontakt mit den Betroffenen. Es ist aber andererseits richtig, wenn die Kirche aus dem, was sie aus den Betroffenenberichten hört, Rückschlüsse auf ihren eigenen Reformbedarf schließt. Die Schlüsselfrage sollte lauten: Was müssen wir bei uns verändern, um Opfern besser zuhören zu können, wenn sie sprechen?

KNA: Die deutschen Bischöfe wollen in dieser Woche auch über mögliche Konsequenzen beraten. Was erwarten Sie sich hier?

Mertes: Die Frage nach den Schlussfolgerungen hängt davon ab, wie man das Problem der Missbrauchs definiert. Hier gibt es innerkirchlich zurzeit noch keinen Konsens. Wir erleben, wie eine lautstarke, oberkatholische Minderheit das Problem so definiert: "Die Schwulen sind schuld." Andere nutzen, wie kürzlich der frühere US-Nuntius Vigano oder jetzt wieder die klerikalen Hintermänner hinter dem jüngsten "Spiegel"-Artikel, das Thema, um sich - obwohl sie selbst Teil des Vertuschungssystems sind - als Aufklärer zu gerieren und den Papst abzuschießen.

KNA: Könnte das Missbrauchsthema tatsächlich zum Sturz von Franziskus führen?

Mertes: Der Papst hat schon einmal im Fall Chile erkannt, dass er gravierende Fehler gemacht hat. Vielleicht gilt ja Vergleichbares für frühere Vorgänge in Argentinien. Ich kann das nicht beurteilen - wohl aber das abstoßende menschliche und intellektuelle Niveau derjenigen, die das ausnutzen, um ihn zu stürzen.

KNA: Noch einmal zurück zur Studie: Die Forscher dokumentieren, dass die meisten Betroffenen von Missbrauch durch Priester männlich sind...

Mertes: Ja, viele Missbräuche sind homosexuelle Ersatzhandlungen. Hinzu kommt, dass das Thema im Klerus doppelt tabuisiert ist - erstens durch die diskriminierenden Aspekte der kirchlichen Lehre selbst, zweitens durch die Tatsache, dass Kleriker nicht sagen dürfen, dass sie schwul sind. Und schließlich finden junge Männer, die ihre eigene homosexuelle Neigung bei sich fühlen und ablehnen, die zölibatäre Lebensform attraktiv, weil sie dann ihr eigenes Thema vermeiden können. So wird psychosexuelle Reifung im Klerus behindert. Sprechen über die eigene Sexualität wird vermieden, und das macht dann auch schwerhörig, wenn Opfer von sexualisierter Gewalt sprechen.

KNA: Begünstigt der Zölibat Missbrauch?

Mertes: Beim Thema Zölibat sehe ich weniger den Zusammenhang mit dem Thema Sexualität, sondern den Zusammenhang mit dem Thema Macht. Sexuelle Unreife kann ein Grund für Anfälligkeit sein, Täter zu werden. Auch Vertuschung und Zölibat hängen vielleicht indirekt dadurch zusammen, dass der Zölibat ein Charakteristikum des Männerbundes namens Klerus ist.

In Männerbünden, die mit Macht zu tun haben, herrschen besonders hohe Loyalitätspflichten und drohen besonders harte Sanktionen, wenn man aus der Loyalität ausschert. Ich glaube, dass diese Struktur letztlich nicht durchbrochen wäre, wenn nun auch verheiratete Männer zu diesem Männerbund gehören würden. Vielmehr stoßen wir da auf eine noch grundlegendere Frage: Aus vielen Gründen, nicht nur aus Präventionsgründen, ist nicht viel gewonnen, wenn man nur den Zölibat öffnet, aber das Thema der Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt nicht mit angeht. Ein erster, ganz unkomplizierter Schritt wäre, Frauen zum Diakonat zuzulassen.

KNA: Einige Betroffenen-Vertreter werfen der Studie mangelnde Unabhängigkeit vor, eben weil sie von den Bischöfen selbst in Auftrag gegeben wurde. Eine berechtigte Kritik?

Mertes: Das Abhängigkeitsproblem besteht - doch das entwertet die Ergebnisse der Studie nicht, und auch nicht den Auftrag selbst. Man stelle sich nur vor, die Bischöfe in Polen oder Italien hätten eine solche Studie in Auftrag gegeben. Oder man stelle sich vor: Die Bildungsverwaltung in Deutschland stellte einer wissenschaftlichen Kommission alle Lehrerakten zu Verfügung, um Missbrauch im staatlichen Lehrbetrieb zu untersuchen. Ich finde, man muss Bischof Ackermann und diejenigen, die hinter diesem Auftrag stehen, auch einmal loben.

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