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Schindlers Liste von Rom?

P. Dominik Markl hat bereits 2019 im Archiv des Päpstlichen Bibelinstituts in Rom eine Liste mit den Namen von mehr als 4.300 Menschen gefunden, die während der deutschen Besatzung Roms in Kirchengebäuden Schutz fanden. Zwei Jahre lang wurde die Liste auf Authentizität überprüft, jetzt wurden die Ergebnisse vorgestellt. Im Interview spricht P. Markl über die Bedeutung dieses Fundes, seine Folgen für die Bewertung des Pontifikats von Pius XII., und warum die Liste so lange verschollen blieb.

Pater Markl, was genau haben Sie im Archiv entdeckt?

Es handelt sich um eine Liste von über 4.300 Menschen, die während der deutschen Besatzung Roms in mehr als 250 Ordenshäusern versteckt und dadurch gerettet wurden. Soweit dies die jüdische Gemeinde von Rom bisher einschätzen kann, stammen 3.200 dieser Namen von Jüdinnen und Juden im religiösen Sinn des Wortes.

Wieso wurde so eine Liste angefertigt, und von wem?

Verfasser der Liste war Pater Gozzolino Birolo SJ, ein italienischer Jesuit, der zuerst Minister und dann Ökonom des Päpstlichen Bibelinstituts war. Birolo begann mit der Liste unmittelbar nach der Befreiung Roms im Juni 1944 und muss sie abgeschlossen haben, bevor er im Frühjahr 1945 schwer erkrankte. Ziel war die Erstellung einer möglichst vollständigen Dokumentation der Fälle geretteter Menschen durch katholische Institutionen in Rom während der Nazi-Besatzung.

Wie ist Birolo vorgegangen, woher hatte er seine Kenntnisse?

Offenbar schrieb Birolo Briefe an die Oberen der Ordenshäuser, in denen er sie aufforderte, eine Liste mit den Namen der Juden zu übermitteln, denen sie Zuflucht gewährt hatten. Daraufhin erhielt Birolo Antwortschreiben mit den entsprechenden Listen, die er dann zu seiner Liste zusammenstellte.

Was bedeutet dieser Fund historisch betrachtet?

Dass katholische Orden in Rom während der deutschen Besatzung Tausende Menschen versteckten, war spätestens seit 1962 durch den Historiker Renzo De Felice bekannt. Er veröffentliche Birolos zusammenfassende Liste der Orden mit der jeweiligen Anzahl der von ihnen versteckten Juden. Sie war zu P. Leiber gelangt, einem wichtigen Berater von Pius XII. Was wir aber bislang nicht hatten, waren die Namen der Personen. Daher konnten die Angaben auch nicht überprüft werden. Für die Wissenschaft ist der Fund deshalb von enormem Wert. Denn aus gutem Grund ist von derartigen Aktivitäten in dieser Zeit wenig dokumentiert und überliefert, schlicht weil es zu gefährlich gewesen wäre. Wir haben mit den Namen einen großen Schatz in der Hand, der nicht nur für Historiker, sondern auch den Nachkommen der Verfolgten und Überlebenden detaillierte Informationen über die Geschichte dieser schwierigen Zeit überliefert.

Muss die Geschichte des Pontifikats von Pius XII. umgeschrieben werden?

Pius wurde ja immer wieder vorgeworfen, dass sein zögerliches Verhalten angesichts der Shoah diese begünstigt habe. Hier bietet der neue Fund erst einmal keine Grundlage, um sein Pontifikat gänzlich neu zu bewerten. Zumal seine persönlichen Papiere der Forschung noch nicht zugänglich sind. Auf die Historiker wartet noch eine gewaltige Aufgabe, und dabei ist die Liste ein Puzzlestück, wenn auch ein großes und wichtiges. Es muss eingeordnet werden in den Zusammenhang der Tausenden und Abertausenden von Dokumenten, die in den vatikanischen Archiven jetzt zugänglich werden.

Die Frage, die unsere Liste aufwirft, lautet: Wie hat sich der Vatikan zu den Rettungsaktionen verhalten? Mutige Akteure sind hier ja die Oberen und Mitglieder der 250 Ordenshäuser, darunter 150 Frauengemeinschaften, die unter Lebensgefahr Menschen aufnahmen. Wir wissen nicht, ob es dafür eine explizite Anweisung des Papstes gegeben hat – und das scheint auch eher unwahrscheinlich. Viele der Aktionen waren spontan, wenn Menschen an der Klosterpforte klopften. Manche wurden abgewiesen, andere aufgenommen, viele über Wochen und Monate. Es gibt aber Indizien dafür, dass der Vatikan involviert gewesen sein muss, denn unter den Frauenorden waren viele mit einer strengen Klausur. Diese müssen sich eine Erlaubnis geholt haben, um Fremde über längere Zeit im Kloster zu beherbergen.

Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen, nach dieser Liste zu suchen?

Wie gesagt: dass diese Dokumentation existiert, wusste man seit den 60er Jahren von Pater Leiber und dem Buch von De Felice. Nach Birolos Tod wurde die Dokumentation aufbewahrt im Archiv des Päpstlichen Bibelinstituts, scheint aber im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geraten zu sein. Erst 2008 entdeckte sie Pater Gilbert bei seinen Arbeiten im Archiv. Doch weil das Dokument so sensibel war, drohte es wieder in Vergessenheit zu geraten. Mitglieder der Jesuitenkommunität wussten aber von dem Dokument. Seit 2013 arbeitete ich am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom. Bei einem Kaminabend erzählte mir ein Mitbruder von den geheimnisvollen Listen im Archiv des Instituts. Diese Information registrierte ich mit höchster Aufmerksamkeit, denn als Österreicher hatte ich mich schon intensiver mit der Geschichte der Nazi-Zeit beschäftigt. Die etwas ominöse Information ging mir nicht aus dem Kopf. Schließlich konnte mir mein Kollege Pater Briffa aus Malta, der als Archäologe in unserem Archiv arbeitete, die Liste zeigen. 

Als Sie die Liste 2019 dann in den Händen hielten: Was empfanden Sie da? Forscherglück?

Eher das Gegenteil: kaltes Schaudern. Ich spürte unmittelbar, dass die Namen auf diesen Listen von Menschen erzählen, die Furchtbares durchgemacht hatten. Und ich wusste, dass wir mit diesem Fund sehr behutsam umgehen mussten.

Was war so heikel daran?

Die Liste berührt sehr sensible Zusammenhänge: die Rolle der katholischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Es war klar, dass wir die Informationen nicht für katholische, kirchenpolitische Zwecke missbrauchen durften. Denn die Geschichte dieser Menschen betrifft zu allererst die jüdische Gemeinde von Rom und viele Nachfahren geretteter Juden in anderen Teilen der Welt. Darüber hinaus geht es um sensible Fragen wie die Taufe von Juden. Ließen sich Juden in der Not der Stunde taufen? Oder nutzten Katholiken die schwierige Situation aus, um Menschen zum christlichen Glauben zu bekehren? Eine vertiefte Erforschung dieses Dokuments hängt entscheidend von einer Vertrauensbasis unter Forschenden ab: von der Bereitschaft, die Liste gemeinsam, sachlich und nüchtern auszuwerten.

Wie sind Sie vorgegangen?

Ich involvierte zunächst den Rektor des Instituts, und wir entschieden, eine Forschungsgruppe zu bilden. Als erstes nahmen wir Kontakt zu Yad Vashem auf. Es erwies sich als Glücksfall, dass dort eine Forscherin in leitender Position arbeitet, die aus Rom stammt: Iael Nidam-Orvieto. Dann gingen wir auf die Jüdische Gemeinde in Rom zu, die freilich größtes Interesse an der Erforschung dieser Geschichte hat. Claudio Procaccia, der Leiter des Archivs der jüdischen Gemeinde, öffnete alle wichtigen Türen. Wir vereinbarten in dieser Dreierkoalition enge Zusammenarbeit und absolute Diskretion. Ich sehe es als eines der schönsten Ergebnisses dieses Fundes, dass jüdische und katholische Historiker mit einer großen Nüchternheit und Klarheit und einem ehrlichen Interesse an historischer Präzision und nicht etwa an Ideologien die Sache bearbeiteten. So konnten wir in den vergangenen Jahren die Namen auf der Liste mit Beständen in anderen Archiven vergleichen und erste wichtige Verifikationen erreichen.

Was waren die Schwierigkeiten dabei?

Die grundlegende Frage war: Können Yad Vashem und die jüdische Gemeinde von Rom die Liste als authentisches historisches Dokument verifizieren? Und dann im Detail: Wer steht hinter diesen Namen, was sind die jeweiligen Einzelschicksale? Dazu kommt als eine der Schwierigkeiten, dass viele Juden natürlich in dieser Zeit zu ihrem eigenen Schutz falsche Namen verwendeten. Die echten Identitäten herauszufinden, ist oft eine Detektivarbeit. Hinzu kommen Namens-Gleichheiten: Hans Müller gibt es ja öfter, und ähnlich ist es auch mit manchen jüdischen Namen in Rom. Nach den ersten vergleichenden Studien wissen wir, dass die Liste eine seriöse Dokumentation liefert – sie ist kein Fake.

Wie geht es nun weiter?

Wir sind mit der Forschung erst am Anfang. Zum Schutz der Privatsphäre der genannten Personen sowie auch ihrer Nachkommen ist das Dokument zunächst nur einer begrenzten Gruppe von Forschern zugänglich. Dies soll vorerst so bleiben, auch wenn die historischen Erkenntnisse aus dieser Quelle mittel- und langfristig der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen. Im Oktober hat in Rom eine Konferenz über Erkenntnisse zu Pius XII. und den Vatikan zur Zeit des Zweiten Weltkriegs stattgefunden. Dabei haben wir auch den neuen Fund präsentiert. Eine noch offene Frage für die Historiker ist jene nach den Motiven, die Liste überhaupt zu erstellen. Manche Vertreter der jüdischen Gemeinde und auch Birolo hofften, eine Audienz von Überlebenden beim Papst zu ermöglichen. Das hat Pius XII. aber im Sommer 1944 abgelehnt. Oder sollte die Liste die katholische Kirche gegen mögliche Vorwürfe verteidigen? Es ist auch denkbar, dass der deutsche Jesuit Augustin Bea dahinter stand, der damalige Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts. Bea war sehr einflussreich und ein wichtiger Berater von Pius XII., nach dem Krieg sogar sein Beichtvater. Ab 1960 trug er im Auftrag von Johannes XXIII. dazu bei, das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum zu revolutionieren, insbesondere durch das Dokument Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965. Wir können gespannt sein, was Zeithistoriker in den kommenden Jahren zu diesen Fragen noch entdecken.

Interview: Gerd Henghuber

Zur Person

Dominik Markl SJ ist Professor für Hebräische Bibel an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Von 2013 bis 2023 war er Dozent am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom, zuletzt Gastprofessor an der Georgetown University in Washington, DC.

Zum Hintergrund

Während des Zweiten Weltkriegs besetzte Nazi-Deutschland Rom neun Monate lang, vom 10. September 1943 bis zur Befreiung der Stadt durch die Alliierten am 4. Juni 1944. Während dieser Zeit lebten etwa 10.000 bis 15.000 Juden in Rom. Die systematische Verfolgung von Juden während der Besetzung Roms durch die Nazis führte zur Deportation und Ermordung von fast 2.000 Menschen, darunter Hunderte von Kindern und Jugendlichen. Etwa 80 Prozent der Juden in Rom überlebten. Nicht wenige der Überlebenden fanden in katholischen Klöstern in der ganzen Stadt Unterschlupf. Mehr als 150 Frauen- und 100 Männergemeinschaften engagierten sich für die Rettung von Juden.

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