Solidarität mit Tieren

Am 3. und 4. September 2021 fand das diesjährige Rottendorf-Symposium zum Thema „Solidarity with Animals“ statt. Hochkarätige internationale Fachvertreter*innen der Animal Studies-Szene nahmen bei der digitalen Konferenz der Hochschule für Philosophie München (HFPH) den Begriff der Solidarität erstmals systematisch im Kontext der Mensch-Tier-Beziehungen in den Blick. Es wurden Möglichkeiten und Entwürfe einer Solidarität diskutiert, die alle Mitglieder unserer Gesellschaften umfasst – Menschen und andere Tiere.

Wir haben mit Dr. Mara-Daria Cojocaru, der Leiterin des Rottendorf-Projekts, über diese spannende neue Perspektive der Solidaritätsforschung gesprochen:

Der Solidaritätsbegriff wurde dieses Jahr im Rahmen des Symposiums zum ersten Mal über die anthropozentrisch geprägte Perspektive hinaus betrachtet. Es ging um die Solidarität mit Tieren. Inwiefern lässt sich der Begriff der Solidarität in diesem Kontext anwenden?

Cojocaru: Der Begriff wurde bislang tatsächlich nur sehr zaghaft im Kontext der Mensch-Tier-Beziehungen verwendet. Sally Scholz und Kendra Coulter, die beim Symposium dabei waren, haben erste Hinweise darauf gegeben, dass das keine begriffliche Verwirrung ist, sondern dass wir Solidarität mit oder zugunsten von anderen Tieren sinnvoll denken können. Solidarität spielt eine zentrale Rolle bei der Reproduktion und Transformation des Sozialen. Es hat noch keine menschliche Gemeinschaft gegeben, in der Tiere nicht in irgendeiner Weise präsent gewesen wären. Das wird oft vergessen. Solidarität bezieht sich meist auf Kontexte von Arbeit, Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit – und selbstverständlich arbeiten Tiere, meistens auch noch unter ausbeuterischen Verhältnissen. Manchmal erkennen wir diese Arbeitsleistung an, zum Beispiel, wenn wir über Pensionen für Polizeihunde nachdenken. Auch sind viele Menschen bereit, für die Gesundheit mancher Tiere enorme finanzielle, zeitliche und emotionale Ressourcen aufzuwenden; da denke ich nicht nur an die ganzen Haustierhalter*innen, sondern die Stadt Athen leistet sich beispielsweise die Gesundheitsversorgung ihrer Streuner – weil die dazu gehören. Und auch der Begriff der sozialen Gerechtigkeit kann uns helfen, präziser über die Verbesserung von Mensch-Tier-Beziehungen nachzudenken, denn gerade die sozialen Interessen anderer Tiere kommen auch dann zu kurz, wenn man sich um so basale Dinge wie Schmerzfreiheit gekümmert hat. Damit, dass wir Tiere nicht leiden lassen, sind wir Menschen noch lange nicht fein raus und es gibt noch viel Luft nach oben. Solidarität als philosophischer Begriff und als Leitlinie praktischen Handelns kann da sehr instruktiv sein.

Haustiere werden von uns Menschen geliebt und gepflegt. Arbeits- und Nutztiere hingegen werden teilweise nicht artgerecht gehalten, andere Tiere stehen auf dem Speiseplan der Menschen. Bedeutet das, dass der Begriff der Solidarität nur für bestimmte Tierarten gilt?

Cojocaru: Gerade nicht. Ich glaube, dass Solidarität helfen kann, genau diese Schablonen im Umgang mit empfindungsfähigen Wesen, wie wir es selbst und die anderen Tiere auch sind, hinter uns zu lassen. Es geht explizit nicht darum, nur Krankenversicherungen für Haustiere zu etablieren, sondern im Gegenteil auch darüber nachzudenken, wer sinnvollerweise ein Mitglied unserer Gemeinschaften sein kann. Ich würde sagen, ein Wellensittich kann das nicht. Wir frustrieren die sozialen Interessen von Wellensittichen systematisch und sollten sie gar nicht als Haustiere halten. Stattdessen scheint mir, dass wir doch zum Beispiel Hühnern, die aus der Nutztierhaltung gerettet werden, schulden, dass sich Tierärzte mit ihrer gesundheitlichen Versorgung auskennen. Dass aktuell ein typischer Tierarzt besser mit einem Wellensittich, der bei uns nichts verloren hat, umzugehen weiß, als mit einer Henne, der wir im Zweifelsfall für ihre ihr auferzwungene Arbeit etwas schulden, halte ich für ein echtes Problem.

Wie würden Sie dieses widersprüchliche Verhältnis erklären, dass manchen Tieren mehr Solidarität entgegengebracht wird, als anderen?

Cojocaru: Sally Scholz unterscheidet für den menschlichen Bereich zwischen sozialer, politischer und bürgerlicher Solidarität. Soziale Solidarität ist dabei zunächst nur deskriptiv gemeint und schon im menschlichen Bereich können wir feststellen, dass wir unsere Solidar-Ressourcen nicht unbedingt so verteilen, dass sich das normativ gut rechtfertigen lässt. Während schon viele Ressourcen in Forschung und Medizin darauf verwendet werden Burn-Out zu verstehen, finden viele andere Gesundheitsprobleme bisher noch wenig Beachtung. Mit dieser Diskrepanz sollten wir uns politisch auseinandersetzen. Gleiches gilt für die nicht zu rechtfertigenden Missverhältnisse in unserem Einsatz für andere Tiere. Hier könnten sich Tierethik und Sozialphilosophie wunderbar ergänzen, um für Tiere, die ja schon faktisch auf verschiedenste Arten und Weisen Teil unserer Gemeinschaften sind, zu kämpfen. Politische Solidarität rüttelt immer auch an bestehenden Verhältnissen. Das richtet sich dann einmal kritisch in Richtung soziale Solidarität und befragt die widersprüchlichen Gefühle der Verbundenheit, die Menschen gegenüber anderen Tieren so haben. Das geht aber auch in Richtung bürgerliche Solidarität: Unsere politischen Institutionen investieren ja schon in andere Tiere. Aber auch hier darf man fragen, welche Vorstellungen von Gemeinschaft etwa im Artenschutz oder auch bei so genannten „One Health“-Projekten zum Tragen kommen, die die enge Verknüpfung der Gesundheit des Menschen mit der Gesundheit von Tieren und der Umwelt berücksichtigen. Dass manche tierliche Individuen, wie etwa die Grauhörnchen, fast zum Staatsfeind erklärt werden, oder in der Bekämpfung von Tollwut doch wieder sehr klar zwischen denjenigen Tieren, die Menschen etwas nutzen, und allen anderen unterschieden wird, das ist fragwürdig. Erklären lässt sich das einerseits durch einen immer noch wirkmächtigen und problematischen Anthropozentrismus. Andererseits aber auch dadurch, dass wir es noch nicht gewohnt sind, die Dinge auch dann gründlich zu durchdenken, wenn es um die Repräsentation tierlicher Interessen geht.

Solidarität bedeutet u.a. „sozial gerecht“ handeln. Dass dieses widersprüchliche Verhalten gegenüber Tieren nicht gerecht ist, ist offensichtlich. Wie könnte man diesen Missstand in Zukunft verbessern?

Cojocaru: Ich bin sehr froh, dass Sie das so sehen und von den Problemen in Termini der Ungerechtigkeit denken. Viele Menschen sehen das ähnlich, und doch werden die Probleme meist als Fragen der individuellen Moral abgetan, vielleicht sogar auch noch daran festgemacht, ob jemand „tierlieb“ ist oder nicht. Tierliebe kann eine schöne Sache sein, ist aber nicht die Voraussetzung dafür, dass man tierliche Interessen ernstnimmt. Wir wären gesamtgesellschaftlich nicht sehr weit gekommen, wenn alle erst einmal „frauenlieb“ hätten werden müssen, bevor wir Gleichberechtigung als politisches Thema ernst nehmen konnten. Darüber hinaus verstoßen zahlreiche Praktiken gegen heute schon geltendes Recht. Das sollte uns als Bürgerinnen und Bürger doch interessieren, zumal wenn diese Rechtsverstöße auch noch durch Steuermittel subventioniert werden. Insofern denke ich, dass wir zweistufig weiterkommen: Einmal müssen wir schnellstmöglich all die schon justiziablen Missstände beheben und dafür brauchen wir unabhängige Organisationen, die die Tiere in unserem Rechtssystem vertreten können. Tierschutz ist Staatsziel – in der Realität verfehlen wir es um Meilen. Darüber hinaus sollten wir unsere politischen Gemeinschaften so neu denken, dass wir zumindest manche Tiere als Mitglieder vollen Rangs anerkennen können. Da könnte vieles zu einer Verbesserung der Mensch-Tier-Beziehung beitragen: Die Repräsentation von tierlichen Interessen habe ich schon genannt. Aber was spricht gegen einen Zivildienst an ehemaligen Nutztieren, die Rückgabe von Lebensraum und Autonomie bis zu Investitionen in Bildung für Tiere, die täglich mit uns klarkommen müssen? Da wird jedenfalls derzeit sehr viel und sehr kreativ Theorie betrieben, oft auch nah an der Empirie.

Ein Ausweg scheint sehr komplex. Bei der Tagung sind Fachleute aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen miteinander ins Gespräch gekommen. Wie können die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Fachbereiche Ihrer Meinung nach positiv zusammenwirken? Wo können Sie gegenseitig voneinander lernen oder sich bereichern?

Cojocaru: Die inter- und transdisziplinäre Arbeit hat bei den Rottendorf-Symposien eine lange Tradition und das ist gerade für ein Fach wie die Philosophie, wo schon manchmal verschiedene Schulen nicht mehr miteinander kommunizieren können, eine Herausforderung. Dieses Jahr hatten wir unter den Speakern wieder sehr hochkarätige und diesmal für die Animal Studies Szene maßgebliche Stimmen mit dabei, die sich zum Teil auch schon aus anderen Debatten kannten. Ich freue mich über weiterführende Kooperationen, die auch dezidiert an der Schnittstelle von Theorie und Praxis aktiv werden wollen. Denn neu und mir besonders wichtig ist, dass wir nicht nur Fachleute aus Philosophie, Politikwissenschaft, Recht, Sozialethik, Veterinärmedizin und Soziologie zu Gast hatten, sondern auch Menschen, die aktiv für Tierrechte eintreten.

Aus philosophischer Perspektive: Welchen Ansatz einer anderen Disziplin finden Sie besonders spannend? Lassen sich die Ansätze vielleicht für eine Umsetzung kombinieren?

Cojocaru: In der Philosophie lässt sich schon seit einer ganzen Weile ein deutlich größeres Interesse an empirisch arbeitenden Wissenschaften erkennen. Was ich sehr hilfreich finde, ist, wenn sich über das Interdisziplinäre hinaus genuin transdisziplinäre Ansätze finden, da interdisziplinäre Arbeit oft auch primär um gemeinsame Begriffe und Vorgehensweisen ringt. Ein solch transdisziplinärer Ansatz in den Animal Studies gruppiert sich um die Idee der Multispezies-Ethnographien, wo es darum geht, durch eine Neubeschreibung der Kontexte, in denen Menschen und andere Tiere miteinander zu tun haben, alte Perspektiven zu überwinden. Die alten Kategorien von Nutztier, Wildtier und so weiter geben ja immer schon ein Stück weit vor, was wir für akzeptabel halten. Hier noch einmal durch solch ein genaues Hinsehen jedes Tier für sich „sprechen“ und als Akteur auftreten zu lassen, das finde ich sehr spannend und zentral, wenn wir mit unseren philosophischen Begriffen nicht permanent an der Realität abrutschen wollen.

Das Symposium dient dem internationalen wissenschaftlichen Austausch. Inwiefern spielen bei der Diskussion über die Solidarität mit Tieren auch kulturelle Aspekte (evtl. kulturelle Unterschiede) eine Rolle?

Cojocaru: Um die kommt man tatsächlich nicht herum und das tut der Philosophie, die oft gerne von Kultur abstrahiert, auch sehr gut. Denn echte Überzeugungen äußern sich auch in Handlungsgewohnheiten – und Gewohnheiten sind träge. Deswegen reicht es nicht, einmal ein Argument anzubieten und zu erwarten, die Leute lassen als nächstes all ihre Gewohnheiten, die mit der neuen Erkenntnis unvereinbar sind, fahren. So einfach ist das nicht und schon gar nicht, wenn es um diejenigen geht, die wir gewohnheitsmäßig gar nicht ernst nehmen, also die anderen Tiere. Da unsere Gesellschaften darauf aufgebaut sind, dass wir sie in Ess-, Kleidungs-, Wohn-, Forschungs-, und so weiter -kultur ignorieren, müssen wir da besonders sensibel sein und Angebote machen. Dabei darf man Kulturen aber nicht monolithisch verstehen. Kulturen wandeln sich auch durch kluge, kontextsensitive und konstruktive Kritik. Ich hoffe, wir können einen entsprechenden Beitrag leisten.

Mehr über das langjährige Rottendorf-Projekt und das Symposium 2021 erfahren Sie hier: www.hfph.de/rottendorf

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