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Migration auch als Chance sehen

Die katholische Kirche begeht am 24. September den Welttag des Migranten und Flüchtlings. Christoph Albrecht SJ, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in der Schweiz, schreibt aus diesem Anlass über die Männer und Frauen, die alles hinter sich gelassen haben, um ihr Leben woanders neu aufzubauen. Er fordert mehr Möglichkeiten, dass sie ihren Beruf oder ihre Ausbildung im Aufnahmeland wieder aufnehmen und fortsetzen können.

Von Christoph Albrecht SJ

Was ein Mensch zurück lässt bei der Flucht
Wer sich gezwungen sieht, aus der Heimat zu fliehen, tut das im Bewusstsein, viel Liebgewordenes zurücklassen zu müssen. Vor allem der Verlust der tragenden Beziehungen zur Familie und zum gewohnten sozialen Umfeld bedeutet oft eine große Belastung für die Betroffenen. Manchmal wird dieser Verlust erst richtig spürbar, wenn jemand die Flucht hinter sich und in einem Land Asyl erhalten hat. Dann, mitten im Integrationsprozess in der neuen Heimat, erleben ehemalige Geflüchtete, dass der neue Ort die alte eigene Heimat wohl nie ganz ersetzen kann. 

Zum Beispiel der Bruch im Berufsleben
Die Entscheidung zur Flucht bedeutet auch ein Zurücklassen von all den Möglichkeiten, Fähigkeiten, Handlungsspielräumen, die jemand in seinem/ihrem angestammten sozialen, beruflichen, ökonomischen, politischen, ökologischen Umfeld hat. Die meisten Geflüchteten, wenn sie die vielen Monate, oft Jahre der Flucht und des Asylverfahrens hinter sich haben und im neuen Land endlich eine Arbeitserlaubnis haben, können nicht ihren bisherigen Beruf ausüben. Entweder sind sie, um möglichst bald sozialhilfe-unabhängig zu werden, gezwungen irgendeinen Job als Hilfskraft anzunehmen, oder sie können ihre Diplome aus der Heimat erst nach langwierigen Anerkennungsprozessen und mit zusätzlichen Studien und Prüfungen geltend machen. Die berufliche Integration kennt noch andere Hürden. Geflüchtete, die nur eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung haben, müssen diese jedes Jahr erneuern. Damit haben sie bei der Stellensuche weniger Chancen. In vielen Branchen sind, Angestellte in stabileren Verhältnissen interessanter für die Arbeitgeber:innen. 

Vier Geflüchtete, vier Beispiele: 

Ein Arabischlehrer ist mangels Anstellung als Freiwilliger aktiv
Meinen Arabischlehrer habe ich 2016 durch Vermittlung eines beim Solidaritätsnetz engagierten Syrers kennengelernt. Mit 45 Jahren ist jener aus dem Nordosten geflohen, weil es immer schwieriger wurde, die Medikamente, die er regelmäßig einnehmen muss, in der Hauptstadt zu besorgen. Als Kurde war es für ihn zu gefährlich geworden, alle zwei Monate die zweitägige Reise nach Damaskus zu machen. Als Englischlehrer wurde er immer stärker überwacht. Als er von einem Kollegen einen Hinweis bekam, dass er auf der Liste eines Geheimdienstes stehe, entschloss er sich zu flüchten. Abschied von seiner Mutter, seinen Geschwistern und ihren Familien. Abschied von den Schüler:innen, von den Kolleg:innen an der Schule, vom lokalen Fußballklub. 2015 schaffte er es bis in die Schweiz. Nach drei Jahren erhält er von den Migrationsbehörden Bescheid, dass er mit seiner Situation die Flüchtlingseigenschaft nicht habe. Er erhält einen Aufenthaltsstatus F (aus humanitären Gründen vorläufig aufgenommen). 

Leider hat er bis jetzt keine Stelle als Englisch- oder Arabischlehrer gefunden. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit kann er auch keine physisch anspruchsvolle Arbeit annehmen. Er engagiert sich als Freiwilliger bei einem städtischen Projekt zur Förderung der Fahrrad-Mobilität, wo er zwar 5 Tage pro Woche arbeitet, aber keinen Lohn erhält und somit von der Sozialhilfe abhängig bleibt.

Ein junger äthiopischer Familienvater
Lebensgeschichten wie die des jungen äthiopischen Familienvaters sind nicht selten. In Äthopien hat er keine Ausbildung machen können. Die angespannte politische Situation und die Schwierigkeiten seiner Minderheit, zwangen ihn, in den Sudan zu flüchten. Nach zwei Jahren wird die Lage für ihn unerträglich. Er zieht weiter durch die Wüste nach Libyen. Dort ist das Leben noch mehr in Gefahr. In der Schweiz angelangt 2014 wartet er bis 2017 auf die Antwort seines Asylgesuchs. In dieser Zeit verliebt er sich in eine Landsfrau und wird Vater. Ich habe ihn 2017 kennengelernt, als er nach einem negativen Bescheid mit der Aufforderung zur Ausreise in eine Notunterkunft gewiesen wurde. Seine Partnerin, die als abgewiesene Asylsuchende in einem anderen zugeteilt war, trennte sich von ihm, als sie eine F-Bewilligung und eine Arbeit als Pflegehelferin erhielt. 

Er hat trotz seiner zermürbenden Situation konsequent und beharrlich weiter Deutsch gelernt und bereitete sich über fünf Jahre lang auf das Härtefallgesuch vor. In dieser Zeit machte er auch unterschiedlichste Einsätze als Freiwilliger und auch Praktikant in der Altenpflege. Da er im Frühling 2023 endlich eine Aufenthaltsbewilligung erhalten hat, kann er eine Arbeitsstelle annehmen und gleichzeitig den Pflegeberuf lernen. Seine berufliche Perspektive motiviert auch seine Partnerin, die Zukunft gemeinsam anzugehen. Sie planen nun, zusammen zu wohnen und ihre Tochter gemeinsam zu erziehen. 

Ein vom Regime verfolgter Politikwissenschaftler 
Ein ausländischer Student in Warschau erhält mitten im Studium von Polen keine Verlängerung seines Visums mehr und wird aufgefordert, sein Visum für Polen im Herkunftsland neu zu beantragen. Von Freunden weiß er aber, dass sie, als sie das taten, bis jetzt verschwunden sind. Also entscheidet er sich, in einem anderen europäischen Land um Asyl zu ersuchen. Die Schweiz will ihn aufgrund des Dublin-Abkommens unter den Ländern des Schengen-Raums zurück nach Polen schicken, wo ihm die Auslieferung in sein Herkunftsland droht. Glücklicherweise kommt es nicht zur Ausschaffung nach Polen. Der Student lernt so schnell die Sprache, dass er die Aufmerksamkeit der Universität auf sich zieht und ein Stipendium erhält. Nun kann er sein Studium auch in der Zeit seines Asylverfahrens fortführen. Wertvolle Jahre seiner Studienzeit können so gerettet werden.  

Eine Chemikerin und Mutter von vier Kindern
Im Jahr 2015 flüchtet eine russische Familie vor dubiosen Bedrohungen, bei deren Aufklärungsversuchen ein Polizist durch einen mysteriösen Autounfall ums Leben kommt. Im Hin und Her der Dublin-Rückschaffungsversuche, des Asylverfahrens und des jahrelangen  Wartens auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes steht die ganze Familie unter großen Belastungen. Durch verschiedene Angebote wie z. B. den universitären Integrationsvorkurs ist es der Mutter, die unter großen Anstrengungen Deutsch und Englisch lernt, möglich, ihr Studium der Chemie fortzusetzen. Sie bekam bereits verschiedene Angebote aus der Industrie, die sie allerdings erst annehmen kann, wenn die Kinder etwas größer sind. 

"Empowering" statt "Brain drain"!
Die vier genannten Personen sind keine theoretischen Beispiele. Sie zeigen, wie unterschiedlich die Chancen und Schwierigkeiten von geflüchteten Menschen sein können. Für eine selbst gestaltete Zukunft spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die eigene Initiative, die psychischen, physischen und geistigen Kräfte, die familiären Bindungen und Verantwortlichkeiten bilden nur eine Seite. Auf der anderen haben die rechtlichen und wirtschaftlichen Hürden, aber auch gezielte Förderungsprogramme einen großen Einfluss. Geflüchtete möchten meistens möglichst rasch ihr Stigma als Flüchtling loswerden und ein normales Leben führen. Das ist Teil ihrer Anstrengung zur Integration in die neue Gesellschaft. Wenn sie endlich in die Lage kommen, sich hier eine Existenz aufzubauen und sich dann erinnern, wie viel Hilfe sie dabei erhalten haben, wird das mit Sicherheit für uns alle bessere Folgen haben, als wenn sie über Jahre hinweg erfahren müssen, hier als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt zu werden. 

Neue Initiativen an Hochschulen 
Eine berufliche Qualifikation im eigenen Land gilt nicht überall. Sie kann mit der Auswanderung verloren gehen. Wir täten gut daran, uns zu erinnern, dass Geflüchtete nicht ohne Wissen und oft auch nicht ohne berufliche Erfahrung kommen. Vielleicht ermöglicht uns eine solche Haltung erst, die Fähigkeiten und den kulturellen Reichtum von Geflüchteten zu entdecken. Das Angebot zum Studium gibt akademisch begabten Geflüchteten ebenfalls die Chance auf ein Leben, in dem sie ihre Stärken sinnvoll weiterentwickeln und einbringen können.

Dank einer dreijährigen Finanzierung erweitern die Universität und die Hochschule für Soziale Arbeit in Freiburg (Schweiz) den Zugang für Geflüchtete zu Hochschulen. Mit dem Projekt "Herodot Plus" schafft die Universität Freiburg zum einen ein Zulassungsverfahren für geflüchtete Personen mit einem akademischen Profil. Andererseits bietet das Brückenangebot "AlterEgauZ" der Hochschule für Soziale Arbeit die Möglichkeit, sich auf ein Studium der Sozialen Arbeit vorzubereiten. Langfristig ist auch eine Ausweitung auf andere Studienbereiche der HES-SO Freiburg geplant. 
Auch andere Universitäten haben in den letzten Jahren Pilotprojekte zur Förderung der Hochschulbildung unter Geflüchteten entwickelt. An der Universität Zürich z. B. mit START! Studium-Integrationsvorkurs der UZH. Und in einem weiteren Sinne muss und darf natürlich das weltweite Online-Bildungsprogramm JesuitWorldwideLearning JWL genannt werden, mittels dessen Geflüchtete in Flüchtlingslagern auf die Hochschulreife vorbereitet werden.

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