Krieg in der Ukraine, Konflikt im Nahen Osten, Klimakrise - den einzelnen allein für schuldig zu erklären, funktioniert nicht mehr, schreibt Stefan Kiechle SJ. Er plädiert dafür, die altbekannte „Schuldfrage“ neu zu bedenken, insbesondere den Zusammenhang von individueller und sozialer Schuld. Denn es gelte zu verhindern, dass sich Einzelne und Gruppen aus der Verantwortung stehlen.
Im Ukraine-Krieg ist Russland der Aggressor: Kann man daher einfach sagen, „die Russen“ seien schuld? Oder Präsident Putin, der Diktator, persönlich? Oder die herrschende Klasse Russlands, die Umgebung des Präsidenten, also Menschen, die von der Gewalt und dem Unrecht profitieren? Oder Generäle und Soldaten, die so grausam agieren? Oder jene angeblich achtzig Prozent der Bevölkerung Russlands, die die Kriegspolitik stützen? Oder sind diese Menschen doch nur Opfer der Kriegspropaganda und können also nichts dafür? Wenn Schuld immer personal zuzurechnen ist: Wer ist dann Schuld?
Wer ist am Israel/Palästina-Krieg schuld? Der Aggressor ist die Hamas mit ihrem terroristischen Massaker an israelischen Zivilisten. Sind die religiösen Köpfe der Hamas schuld? Oder die einfachen, religiös verführten Kämpfer? Oder auch die Netanjahu-Regierung, die die Palästinenserfrage ignorierte, die Gewalt der Siedler förderte und die Bedrohung der Hamas nicht genügend ernst nahm? Und bei dem zweifellos berechtigten Gegenschlag der israelischen Armee: Wer ist schuld an den Grauen gegen die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen? „Die Israelis“? Deren Führer? Die Armee? Oder die politische Rechte Israels – und damit auch wieder die Religion? Oder eben doch die Hamas, die den Gegenschlag ja provozierte und die Menschen als Schutzschilde missbraucht? Oder weiter zurück: Sind an diesem Krieg jene geschichtlichen Kräfte schuld, die einst die konfliktive Situation Israels/Palästinas herbeiführten?
Wer ist schuld an der Klimakrise? Die Industrieländer mit ihrem hohen CO2-Ausstoß? Der einzelne Bürger, der durch seinen Konsum dazu beiträgt? Oder die Superreichen mit ihren Luxuswohnanlagen und Privatflugzeugen? Oder „die Politik“, „die Wirtschaft“ – sie sind uneinsichtig und steuern nicht dagegen? Ist so etwas wie die kollektive Gier – als eine Art psychische Grundkonstante der Menschheit – schuld daran, dass wir immer mehr konsumieren, ohne auf die Folgen zu achten? Bestehen die Armen der Welt nicht zu Recht auf einem eigenen, größeren Anteil am Kuchen?
Wer ist schuld an der Kirchen-Missbrauchskrise? Die Priester, die mit ihren Verbrechen der Kirche den moralischen Kredit nahmen? Sind diese vor allem krank und getrieben – oder doch frei und verantwortlich, also schuldig? Sind die Strukturen schuld? Oder die Bischöfe, die nicht nur nichts verhindert, sondern begünstigt, weggeschaut, vertuscht haben? Gibt es nicht ein ganzes System von Bystandern, Ko-Abhängigen, Unterstützern, die die Verbrechen verschwiegen? Die Angst hatten, etwas zu sagen, die vielleicht nichts sagen durften oder konnten? Das gälte ähnlich für andere kirchliche und gesellschaftliche Missstände und ihre Systeme und Netzwerke.
Den einzelnen allein für schuldig zu erklären, funktioniert nicht mehr
In der alten kirchlichen Moral war Schuld vor allem individuell: Der einzelne war Sünder, Missetäter, Verbrecher. Die soziale oder strukturelle Sünde wurde in den letzten Jahrzehnten (wieder)entdeckt. Aber wie hängen beide zusammen? Den einzelnen allein für schuldig zu erklären, funktioniert nicht mehr, denn wir wissen zu viel über die sozialen, psychischen und ideologischen Abhängigkeiten. Die Öffentlichkeit zeigt gerne mit dem Finger auf die Oberchefs und stellt diese an den Pranger, all die Präsidenten oder Diktatoren, Päpste oder Bischöfe. Monarchische Systeme eigenen sich gut für solche Fingerzeige – ganz gerecht sind diese schon deswegen nicht, weil sie meist auch den Fingerzeiger entlasten wollen. Freilich gilt auch: Eine Kollektivschuld im Sinn der vollen personalen Verantwortung einer Gruppe gibt es nicht. Aber wer ist dann schuld? Wie ist es zu deuten, dass die destruktiven Kräfte der Seele, früher etwa als Sieben Todsünden beschrieben, mehr und mehr externalisiert und auf Kollektive übertragen werden? Dass Laster in Strukturen und undurchschaubare Prozesse ausgelagert werden (vgl. Christian Rutishauser SJ in: StdZ 148, 7/2023, 482)? Dass die kommunikativen Blasen – befeuert durch Social Media – den einzelnen, oft unbemerkt, in eine destruktive Gruppenideologie hineinziehen und ihn darin festhalten?
Den Zusammenhang von individueller und sozialer Schuld bedenken
„Schuld“ (lat. debitum) ist zum einen der zu restituierende Schaden, den eine böse Handlung angerichtet hat, zum anderen (lat. culpa) ein Schaden, der nicht mehr restituiert werden kann und daher gleichsam umsonst, gratis des Erlasses, der Vergebung bedarf. Böses ist erst dann überwunden, wenn die Schuld bezahlt oder vergeben ist. Bevor Gott sein Himmelreich aufrichtet, muss alle Schuld in irgendeiner Weise bezahlt oder vergeben sein, sonst würde Gott die von ihm geschaffene menschliche Freiheit und Verantwortung übergehen. Um Schuld personal zu vergeben, muss sie zuerst angeschaut und benannt werden; daher die Frage nach ihr.
Theologie und Ethik haben die Aufgabe, die alte Schuldfrage – oft verdrängt oder verleugnet – und darin heute insbesondere den Zusammenhang von individueller und sozialer Schuld zu bedenken. Ziel könnte sein zu verhindern, dass sich Einzelne und Gruppen aus der Verantwortung stehlen, und weiterhin, indem sie mehr Verantwortung übernehmen, dass sie wirklich umkehren – und dadurch außerdem fähig werden, Vergebung anzunehmen.