Frau Gentner, Pater Zimmermann, Sie beide leiten das Heinrich Pesch Haus, das in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert – wie hat sich das Profil seither verändert?
Ulrike Gentner: Eigentlich ist das Haus schon älter, wir feiern in diesem Jahr, dass das Heinrich Pesch Haus im Jahr 1974 in Ludwigshafen eröffnet wurde. Gegründet wurde es schon 1956 von Pater Felix zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg SJ u.a. als ein Ort der politischen Erwachsenenbildung von Arbeitnehmern. Die Themen nach dem Krieg waren dabei: für Demokratie, für Europa, gegen den Kommunismus.
Gegen den Kommunismus, das hört sich ziemlich nach Kampf an.
Gentner: Nicht nach Kampf, aber nach einer klaren Positionierung. Und die folgte der katholischen Soziallehre, wie sie der Namensgeber Heinrich Pesch vertrat. Er gilt als einer der geistigen Väter unserer heutigen Gesellschaftsordnung und hat das Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip mitbegründet. Pesch ging davon aus, dass zwischen dem Individuum und der Gesellschaft ein wechselseitiges Abhängigkeits- und Verpflichtungsverhältnis besteht. Er befürwortete Privatwirtschaft und freie Konkurrenz, die aber der sozialen Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl als regulative Prinzipien unterstellt sein sollten.
In einer Zeit, in der zum Klassenkampf gegen die Herrschenden mobilisiert wurde, eine eher defensive Position.
Tobias Zimmermann SJ: Ja, aber er war nicht Politiker. Er war Nationalökonom, heute würde man Volkswirtschaftler dazu sagen. Und er sah aus dieser Perspektive die zwei Megatrends der Zeit vermeintlich unversöhnbar: den ungezügelten Kapitalismus und den Kommunismus. Dazwischen die Arbeiterfrage, also die Situation der oft prekär beschäftigten einfachen Arbeitnehmer. Zwischen den beiden großen Megatrends fand die katholische Soziallehre mit Pesch eine eigene, unabhängige Position, und das finde ich bis heute eine ganz starke Leistung.
Worin bestand diese eigene Position?
Zimmermann: Die katholische Soziallehre wollte eine Antwort auf die Situation der Arbeiter in Fabriken finden. So, wie die war, konnte es nicht bleiben. Aber anders als der Kommunismus ruft sie die Arbeiter nicht zur Revolution, zum Umsturz der bestehenden Ordnung auf – mit sehr ungewissem Ausgang übrigens, wie die Geschichte zeigen sollte. Sondern sie nimmt stattdessen den Menschen in den Blick und schaut, wie ihm in seiner ganz konkreten Situation geholfen werden kann. Hier kommt das, wie ich finde, hochaktuelle Prinzip der Subsidiarität ins Spiel, also Hilfe auf der Ebene anzusetzen, auf der man am besten helfen kann.
Wie steht es um die Subsidiarität in einem extrem ausgebauten Sozialstaat? Der Bund gibt mehr als ein Drittel seines Haushalts für Sozialleistungen aus.
Zimmermann: Ja, das ist vielleicht auch das Problem. Denn es geht nicht darum, möglichst viele Milliarden an möglichst große Bedarfs- und damit Wählergruppen zu verteilen, sondern darum, die Menschen zu adressieren, die wirklich in Not sind. Daran scheitert der Sozialstaat nach meiner Wahrnehmung immer häufiger.
Können Sie das konkret machen?
Zimmermann: In unserer Gesellschaft laufen erhebliche soziale Transformationsprozesse, und dafür ist Ludwigshafen mit seinen sozialen Friktionen und Brennpunkten genau der richtige Ort. In Starnberg wäre es etwas weniger offensichtlich, aber auch dort könnte man sehen, dass es sozial brodelt und brennt. Wer das nicht glaubt, soll nur einmal an eine Ausgabestelle für Lebensmittel gehen und die Menschen in der Schlange betrachten, die sich weit vor Öffnung dort bildet.
Gentner: Um ein anderes Beispiel zu nennen: Während der Pandemie brach die Infrastruktur für Obdachlose nahezu komplett zusammen. Hat das irgendjemand bemerkt? Viele Menschen gehen nicht einfach aufs Amt und beantragen Bürgergeld.
Zimmermann: Die Transformationsprozesse in unserer Gesellschaft haben das Potenzial, unsere demokratische Ordnung zu gefährden. Menschen in wirtschaftlich prekären Lebensverhältnissen, mit schlechter Bildung und ohne Aufstiegschancen hätten sich zur Zeit von Heinrich Pesch der Arbeiterklasse zugeordnet mit ihren Strukturen, Parteien, ihrem Selbstverständnis und Stolz. Heute finden sie keine wirkliche politische Vertretung mehr und wählen daher Trump in den USA, Le Pen in Frankreich, die AfD in Deutschland. Die Wählerwanderung zu solchen populistischen, demokratiefeindlichen, polarisierenden Parteien ist gut belegt. Dadurch verschiebt sich auch der politische Diskurs massiv, er wird aufgeladener, aggressiver, apodiktischer. Wir sind in einer Situation, in der es die Gesellschaft fast zerreißt.
Ist das nicht etwas zu pessimistisch formuliert?
Zimmermann: Nein. Die Polarisierung spaltet doch schon jetzt die Gesellschaft. Schauen Sie mal, wie schwer es geworden ist, sachliche Diskussionen zu führen, um Konsens zu werben, Kompromisse auszuhandeln. Stattdessen wird wütend um Gendersternchen gestritten – als ob das wichtig wäre!
Woran liegt das?
Zimmermann: Vermutlich waren wir zu lange in Watte gepackt, es ging uns lange zu gut. Jetzt sehen wir die riesigen Herausforderungen – neben den sozialen Transformationen Migration, Klimakrise, Krieg, Bedrohung unserer Sicherheit – das macht vielen Menschen Angst, und aus dieser Angst heraus neigen viele zu vermeintlich einfachen Lösungen, zu klaren Feindbildern, zu Sündenböcken. Es fehlt hier oft an Haltung, und Haltung braucht Halt. Ich meine schon, dass es auch mit der Frage nach Gott zu tun hat, wenn sich viele Menschen in den Stürmen unserer Zeit haltlos fühlen.
Und da will das HPH ansetzen?
Gentner: Ja, wir wollen als katholische Einrichtung ganz bewusst die Frage nach Gott lebendig halten, wobei wir niemanden missionieren. Als offene christliche Akademie richtet sich das Angebot an alle Interessierte, unabhänigg von kirchlicher und religiöser Prägung.
Was genau wollen Sie gegen die beschriebenen Entwicklungen unternehmen?
Gentner: Wenn wir auf die sozialen, eigentlich die sozial-ökologischen Transformationen blicken, dann gehen wir wie unsere Gründer vor Jahrzehnten vom Subsidiaritätsprinzip aus: Erst wenn die Möglichkeiten einzelner Menschen oder Gruppen nicht mehr zum Handeln ausreichen, dann greifen höhere staatliche Ebenen ein.
Ist also die katholische Soziallehre wieder modern?
Zimmermann: Ja genau! Der ständige Ruf nach dem Staat ist heute ganz oft auch Flucht aus der eigenen Verantwortung. Und in der Politik ist eine gewisse Hybris entstanden, was der Staat nicht alles, und zwar möglichst umfassend und mit möglichst detaillierter Einzelfallgerechtigkeit zum Besseren regeln könnte und sollte. Auch wenn er es gar nicht kann. Nach der katholischen Soziallehre soll sich der Staat aber zurückhalten, wenn Ebenen weiter unten ein Problem lösen können, womöglich sogar besser.
Wie kann das HPH dazu beitragen?
Gentner: Wir versuchen, dieses Engagement auf drei Arten zu fördern. Erstens durch ein Bildungsprogramm für unterschiedliche Menschen. Unsere Zielgruppen sind sehr heterogen: Kinder, Jugendliche, Familien, Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter, Fachkräfte, Führungskräfte. Wir wollen sie in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen anregen, schulen und fortbilden, sodass sie Verantwortung für sich und andere übernehmen. Zweitens, indem wir durch unsere Angebote Orientierung geben. Dazu gehören spirituelle Angebote im Sinne der ignatianischen Tradition. Und drittens engagieren wir uns als HPH selbst in konkreten Projekten, um etwas zu tun gegen die Not.
Was sind das für Projekte?
Gentner: Mahlzeit LU gibt fast jeden Tag ca. 100 bis 120 Essen für Bedürftige aus. LU can learn fördert Menschen ohne Schulabschluss und unterstützt sie darin, die Berufsreife zu erlangen. LU can help hilft geflüchteten Menschen durch viele Informations- und soziale Angebote. Und dann bauen wir auch noch eine eigene Siedlung.
Was hat es damit auf sich?
Gentner: Wir hatten landwirtschaftlich genutzte Grundstücke um unser Haus. Und wir wollten etwas gegen die Wohnungsnot tun. Wir haben dann sehr intensiv reflektiert, wie ein Projekt aussehen müsste, damit es unserer Vision entspricht. Entstanden ist das Konzept der Heinrich Pesch Siedlung mit 800 neuen Wohnungen für rund 2.000 Menschen aus vielen sozialen Schichten, Kulturen und Generationen - nach höchsten ökologischen und sozialen Standards.
Was macht Ihnen Hoffnung, Pater Zimmermann, trotz des Befunds unserer Gesellschaft, wie Sie ihn beschrieben haben?
Zimmermann: Dass unsere Angebote sehr gut nachgefragt werden. Es gibt also viele Menschen, die sich engagieren wollen. Wir haben auch sehr viele Ehrenamtliche in unseren Projekten, auch das ist sehr schön.
Wie sieht das Festprogramm aus in Ihrem Jubiläumsjahr?
Gentner: Wir haben bewusst auf ein großes Gala-Event verzichtet. Stattdessen machen wir ein Programm mit Schwerpunkten für unsere verschiedenen Zielgruppen. Die Gala, wenn Sie so wollen, bildet dann eine Messe am 15. September in der Mannheimer Jesuitenkirche, am Geburtstag von Alfred Delp, mit Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann und Pater Provinzial.
Zu einem Geburtstag darf man sich ja auch etwas wünschen, was wäre das?
Zimmermann: Dass es uns auch in den nächsten 50 Jahren gelingt, die Vision des HPH immer wieder ins Heute zu übersetzen, ins Handeln zu kommen, Menschen zusammenbringen und gemeinsam etwas zu wuppen.
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Mehr erfahren über das Werk von Heinrich Pesch in dem Buch: Das System des Solidarismus
Interview: Gerd Henghuber