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Will der Mensch überhaupt Frieden, Pater Rutishauser?

Pater Rutishauser, wenn wir in die Ukraine schauen oder nach Israel, dann könnte man meinen, der Krieg sei der Naturzustand des Menschen. Ist der Mensch dem Menschen doch ein Wolf?

Christian Rutishauser SJ: Das würde ich nicht sagen. Der Mensch will Frieden, er will leben, sich entfalten und die Welt gestalten. Er sucht auch nach Gerechtigkeit und Liebe. Nur: andere wollen sich ebenso entfalten und haben darüber womöglich ganz andere Vorstellungen. Rivalität und Konkurrenz entstehen. Wenn unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderstoßen, entstehen daraus Konflikte.

Ein Konflikt ist aber noch kein Krieg.

Genau, und man sollte auch versuchen, jede weitere Eskalation zu verhindern. Doch die Mechanismen auf gesellschaftlicher Ebene sind dieselben wie auf der persönlichen. Unterschiedliche Weltanschauungen, Ideologien, Religionen, politische Konzepte etc. stehen in Konkurrenz. Gesellschaften und Kulturen wollen sich auf Kosten der anderen ausbreiten. Die eigenen Schwächen und Fehler werden auf andere Gruppen projiziert. Pauschale Verachtung und Feindbilder entstehen. So wird der andere als Bedrohung empfunden. Dies sind alles Vorstufen für eine bewaffnete Auseinandersetzung, für Krieg. Dieser fällt nie vom Himmel.

Was bedeutet dieser Mechanismus für die aktuellen politischen Konflikte wie für den Krieg in der Ukraine oder in Gaza?

Eines ist mir wichtig: Die beiden Kriege muss man deutlich unterscheiden. In der Ukraine verteidigt sich ein souveräner Staat gegen einen imperialen Aggressor. Russland spricht der Ukraine ihre nationale und kulturelle Eigenständigkeit ab und möchte sie einverleiben. Das ist in Israel anders. Das kleine jüdische Volk will in dem Stück Land, zu dem es gemäß dem eigenen Verständnis seit Beginn der Geschichte gehört, in Sicherheit leben. In diesem Land leben aber auch die Palästinenser. Zudem wollen die umliegenden muslimischen Staaten Israel auch nicht. Sie dulden es höchstens. Dann kommt noch hinzu, dass die Bibel als Heilige Schrift in Bezug auf das Land eine zentrale Rolle spielt. Der Israel/Palästina-Konflikt ist einzigartig.

Dann also zunächst zur Ukraine, wie kann hier Frieden entstehen?

Militärisch entweder durch einen Sieg der Ukraine, wonach es aber nicht aussieht, oder durch einen Sieg Russlands. Ein militärischer Sieg Russlands, in welcher Form auch immer, löst den Konflikt aber nicht, sondern verschiebt ihn nur auf eine andere Ebene. Echter Friede ist nur möglich, wenn das alte Blockdenken Ost gegen West überwunden wird. Aber Putin selbst kommt da nicht raus. Er ist als KGB-Mann in diesem Denken ausgebildet worden und hat sich zu einem russischen Diktator entwickelt. Für ihn ist es nicht hinnehmbar, wenn die Ukraine autonom entscheidet. In seinen Augen wendet sich das Land dann einem feindlichen Block zu. So scheint es ihm legitim, Krieg zu führen und Hunderttausende von Menschenleben zu opfern, nur um seine eigene Sicht von Russland und Europa zu retten. Auch wenn er von Russland spricht, denkt er in den Kategorien der Sowjetunion.

Inwiefern?

Putin tut so, als gebe es schon immer das ewige Russland im Gegensatz zum Westen. Doch historisch stimmt das nicht. Das Zarenreich hat einst die europäischen Barockkultur aufgenommen. Denken Sie nur an die Architektur in St. Petersburg. Es gab ein europäisches Mindset, zu dem immer auch Russland gehören wollte.

Was wäre erforderlich, um dieses Blockdenken aufzulösen?

Mit Putin ist es nicht zu überwinden. Russland müsste sich als Teil von Europa verstehen, das durchaus vielgestaltig ist. Dann könnte es auch die Ukraine besser akzeptieren. Westeuropa wiederum müsste die kulturelle Eigenständigkeit Osteuropas und auch Russlands mehr anerkennen. Doch nun rüstet auch die NATO leider – aber auch verständlicherweise – wieder auf. Wir sind zurück nicht nur im kalten Krieg, sondern in einem offenen Krieg.

Nun zu Israel/Palästina: Sie haben die beiden Konflikte, Kriege, im Grundsatz voneinander unterschieden. Wie wäre hier Frieden möglich?

Zuerst ist festzuhalten, dass Israel/Palästina Teil des größeren Nahostkonflikts ist. Denken Sie nur an den Iran, an Syrien und an die muslimischen Extremisten, die Israel vernichten wollen, oder auch an den Kampf um Vorherrschaft unter den arabischen Staaten. Die Abkommen der Arabischen Emirate oder die Verhandlungen Saudi-Arabiens mit Israel waren pragmatische Versuche aus dem Konflikt herauszukommen. Weder der Iran noch die Hamas hatten daran Interesse. Vielmehr missbrauchen gerade sie die Palästinenser, um Israel zu bekämpfen. Dies ist tragisch für die Palästinenser, denn sie würden in der Westbank und noch mehr in Gaza seit langem mehr Gerechtigkeit und Recht brauchen.

Dem Domradio hatten Sie im Oktober nach den Angriffen der Hamas gesagt, dass Sie nicht mehr an die Zweistaatenlösung glauben, wieso?

Weil es dafür zu spät ist. Die Gründung des Staates Israel in den völkerrechtlich anerkannten Grenzen von 1949 ging einher mit der Vertreibung von Palästinensern, die als Nakba bezeichnet wird. Es hätte die Möglichkeit für einen palästinensischen Staat in der Westbank gegeben, aber wir sind heute nicht mehr 1949, wir sind nicht mehr 1973 und auch nicht mehr 1993, als sich Arafat und Rabin in Oslo die Hand reichten. Heute halte ich eine Zweistaatenlösung nicht mehr für realistisch. Die Angriffe der Hamas haben noch einmal sehr klar gezeigt: diese Terroristen-Organisation will keinen Frieden, keinen Staat Israel. Im Grunde sehe ich daher nur noch eine Ein-Staaten-Lösung mit Israel als Sicherheitsmacht über das Ganze und mit einer Teilautonomie von Palästinensern darin, sich zu verwalten. Es braucht neben Sicherheit vor allem eine Rechtsstaatlichkeit mit bürgerlichen Rechten für alle Bewohner verschiedener Herkunft und religiöser Überzeugung. Auch ein jüdischer Staat kann Palästinenser als Bürger gleichberechtigt behandeln.

Wie meinen Sie das?

Die Gesamtvision? Ein Staat, in dem Israel das militärische Gewaltmonopol hat, um sich gegen außen zu verteidigen. Nach innen aber eine Konföderation mit regionaler Autonomie. Verzeihen Sie, ich bin Schweizer. Da denke ich an einen „Kanton Gaza“ und an einen „Kanton Palästina“ in der Westbank, an einen „Kanton Galiläa“, an einen der Mittelmeerküste entlang und an einen „Stadtkanton Jerusalem“. Lokale Parlamente und kulturell-religiös unterschiedlich geprägte, öffentliche Ordnungen wären so möglich.

Was könnte Jesus in Konflikten wie in der Ukraine oder in Israel beitragen?

Jesus war kein Politiker und hat keine Staatspolitik gemacht. Er hat seinen Landsleuten ethisches Verhalten gelehrt. Sein Wirken in Galiläa war sozusagen auf der zivilgesellschaftlichen Ebene. Als es politisch wurde, als er die jüdische Ordnungsmacht in Jerusalem und die römische Staatspolitik herausforderte, brachte man ihn gleich um. Das heißt, die Christen können ihr persönliches Handeln relativ unmittelbar an Jesus ausrichten. Doch politisches Handeln kann sich vom Geist des Auferstandenen, von Gottes Geist her lediglich inspirieren lassen. So hat die Kirche später eine politische Theologie entwickelt, die sich an weltliche Mächte richtet. Sie hat zum Beispiel versucht zu definieren, was ein gerechter Krieg ist. Auch bei der modernen Entwicklung von Völkerrecht und humanitärem Recht etc. kann davon gesprochen werden, dass sie den christlichen Geist in sich tragen.

Was lehrt Jesus dann über Konflikte und Unfrieden unter Menschen?

Dass wir uns um Prävention bemühen müssen, um das mal modern auszudrücken, und zwar bevor ein Konflikt entsteht.

Was bedeutet das: Konflikt-Prävention?

Dass wir zu Friedenszeit einüben sollen, den anderen zu verstehen und zu respektieren. Jesus lehrt, den Dialog, fordert auf, Gottes Willen zu suchen, sowie für Frieden und Gerechtigkeit zu leben. Jesus packt das Böse an der Wurzel an, wenn er dazu anleitet, die Abgründe der Seele zu reinigen. Die Kirche hat die Lehre Jesu mit der antiken Bildung verbunden. Später hat sie eine humanistische Bildungstradition hervorgebracht. Langsam haben wir in der Moderne auch gelernt, ungerechte Hierarchien zu überwinden, um immer mehr auf Augenhöhe Gesellschaft zu gestalten. All das ist Prävention. Die Christen sollen mit allen Menschen guten Willens zusammenarbeiten. Wenn aber erst einmal ein Krieg ausgebrochen ist, dann gilt es, so rasch wie möglich Wege herauszufinden. Jesus hat schließlich Gewaltlosigkeit vorgelebt. Vor allem hat er aber auch den Weg der Versöhnung ans Herz gelegt.

Wie geht das konkret?

Jesus zeigte diesen Weg, wenn er heilte, zu Neuanfängen anregte und Mitmenschen in die Gemeinschaft wieder integrierte. Gerade bei den Osterevangelien bin ich immer wieder berührt, wie der Auferstandene, wenn er erscheint, niemandem einen Vorwurf macht. Er wurde zu einem Gewaltopfer und erscheint danach mit den Worten: „Friede sei mit euch!“ Das ist doch umwerfend! Und schon in seinem irdischen Leben hat Jesus immer wieder zu vermitteln gesucht. Er hat die Grenzen seiner Familie, seiner sozialen Bezugsgruppe, seiner Nation überschritten. Wer im Geiste Jesu heute handelt, versucht gerade Abgrenzungen gegenüber Fremden zu überwinden und denkt langfristig, für alle beteiligten Menschen.

Das müssen Sie erklären.

Bei gesellschaftlichen Konflikten stehen sich oft Interessengruppen gegenüber. Zum Beispiel wir, die Christen, und sie, die Muslime; wir, die Deutschen, und sie, die Migranten. Verschiedene Gruppen sind in Misstrauen und Feindbildern gefangen.

Also ist die Politik gefragt?

Nein, nicht zuerst. Aussöhnung allein auf der politischen Ebene ist zu wenig. Politik kann nur Rahmenbedingungen schaffen. Frieden muss vor allem auf der zivilgesellschaftlichen Ebene geschaffen werden. Gerade hier lernt der Mensch über seine eigene Familie und Gruppe hinaus, über die eigene Partei und sprachliche Zugehörigkeit hinaus, zusammenzuleben. Daher ist die Förderung von Initiativen von in dieser Hinsicht freien Bürgerinnen und Bürgern so wichtig. Gerade hier sollte auch das Christentum mit seiner universalen Ethik und mit der Bildung der Menschen ansetzen. Das ist die beste Konflikt- und auch Kriegsprävention. Und auch der Staat muss innen vor allem in demokratische Prozesse investieren und nicht nur auf Aufrüstung und Abschreckung gegen außen setzen.

Interview: Gerd Henghuber

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