Jesuiten 2011-4

Bewegungen der Seele ISSN 1613-3889 2011/4 Jesuiten

Jesuiten 1 Editorial Schwerpunkt 2 Bewegungen der Seele begleiten 5 Wenn böser Geist herum spukt 6 Die Unterscheidung der Geister 8 Mehr als nur gelesen 9 Absichtslosigkeit 13 Das innere Team 14 Von Schafen und Hirten 15 Gedanken zur geistlichen Begleitung 16 Ethos Geistlicher Begleitung 18 Innerlich und engagiert 19 Mein Weg auf den Tahrir-Platz 21 Film-Exerzitien Geistlicher Impuls 22 Wie geht „besinnlich“? Nachrichten 24 Neues aus dem Jesuitenorden Personalien 27 Jubilare Medien DVD 27 Eine gute Adresse Nachrufe 28 Unsere Verstorbenen Vorgestellt 30 Raum für „mehr“ 33 Autoren dieser Ausgabe 34 Die besondere Bitte Jesuiten investieren in Bildung – Investieren Sie in ein Stipendium? 37 Standorte der Jesuiten in Deutschland Inhalt Ausgabe 2011/4 2011/4 Titelbild Illustration von Matthew Vecellio Eine genuin filmische Art, mit anderen Augen zu sehen, zeigt Ihnen der Kino-Spot zu den Film-Exerzitien, den P. Christof Wolf SJ, Loyola Productions Munich, für das Lassalle-Haus realisiert hat. Sie können ihn unter <www.filmexerzitien.org> anschauen und auch gerne via Internet weiterempfehlen.

Dezember 2011/4 Jesuiten 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, in seinen Exerzitien lässt Ignatius von Loyola den Beter meditierend das Leben Jesu anschauen, Abschnitt für Abschnitt, in vielen einzelnen Übungen. Die erste dieser Übungen stellt die Frage, warum Gott überhaupt in Jesus Mensch wurde:Was bewegte Gott-Vater dazu, seinen Sohn auf die Erde zu schicken? Warum brauchte es Weihnachten – und dann die 33 Jahre des irdischen Lebens Jesu bis zum Kreuzestod und zur Auferstehung? In dieser Übung betrachtet man zunächst, wie „die drei göttlichen Personen“ – gleichsam vom Himmel herunter – „das ganze Erdenrund“ mit den vielen Völkern und Kulturen anschauen. Was sehen sie? Die einen Menschen sind weiß, die anderen schwarz, die einen sind im Frieden, die anderen im Krieg, die einen lachen, die anderen weinen, sie unterhalten sich, sie schwören und sie lästern, sie schlagen einander und töten sich, und: „alle steigen zur Hölle ab“. Der Befund ist eindeutig: Bei aller interessanten Buntheit ist die Menschheit doch so verdorben, dass sie verloren gehen wird! Die drei göttlichen Personen sind von dieser Einsicht im Inneren bewegt, ja sie sind erregt, erschüttert, aufgewühlt. Und sie beschließen, „dass die zweite Person Mensch werde, um das Menschengeschlecht zu retten“. Nun senden sie den Engel Gabriel zu Maria, um ihr die Geburt Jesu anzukündigen. Neun Monate später wird Gott Mensch; die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem ist das Thema der folgenden Übung. Am Anfang stand die Erschütterung des göttlichen Herzens über die Zustände auf der Erde – aus der inneren Bewegung entsteht die Einsicht des Herzens, und diese Einsicht motiviert zum Handeln. Was in Gott geschah und dadurch weltgeschichtlich bedeutsam wurde, gibt es im Kleinen in jedem von uns: innere Regungen, die nach einem längeren Prozess des Unterscheidens und des Entscheidens uns dazu bringen, dass wir unser Leben in die Hand nehmen, dass wir uns gegen das Böse und für das Gute engagieren – und dass wir so zu Christen werden. Der Schwerpunkt dieser JESUITEN-Ausgabe, verantwortet von Simon Lochbrunner, Johann Spermann,Tobias Specker und Tobias Zimmermann, thematisiert die Bewegungen der Seele: wie wir sie wahrnehmen und unterscheiden, wie wir einander auf diesem Weg helfen und uns begleiten lassen können, wie wir Blockaden und Fehler erkennen und überwinden, wie Regungen uns zu Wegweisern auf der Suche nach Gott und nach dem rechten Leben werden. Wenn Sie Ihren Regungen nachspüren, werden Sie erschrecken über manches Böse in dieser Welt und Staunen über sehr viel Gutes, und Sie werden – das wünsche ich Ihnen zu Weihnachten – Ihr Herz öffnen für das Wunder Gottes, der Mensch wurde aus der inneren Erschütterung der Liebe, um uns aus aller Verstrickung und vor dem Untergang zu retten. Ihnen allen einen friedvollen Advent, ein frohes Weihnachtsfest und ein reich gesegnetes Jahr 2012! Stefan Kiechle SJ Provinzial

2 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Bewegungen der Seele begleiten Unter unserer alltäglichen Geschäftigkeit bleibt meist die grundlegende Herausforderung des Steuermannes auf offener See verborgen:Wer bin ich und wie halte ich Kurs, wenn ich von verschiedenen Strömungen hin und her gezogen werde, von Idealen und Realitätssinn, vom Druck der Außenwelt und den Träumen meines inneren Menschen. Mensch, wohin steuerst Du eigentlich Dein Leben? Mensch, wer wirst Du vom Ende her gewesen sein? Der Mensch muss sich selbst als Mensch erfinden. Aber kann man sich selbst Maßstab sein? Für Augustinus ist Sünde eine Art struktureller Orientierungslosigkeit. Am Grunde seiner selbst findet der Mensch streng genommen nichts, jedenfalls nichts Gültiges als Maßstab, denn der Mensch ist – christlich gesehen – Schöpfung aus dem Nichts. Wir leben in einer Kultur, die es zur Tugend erklärt, sich einfach nur auf das zu beschränken, was für die eigene, begrenzte Fähigkeit der Ratio zu greifen ist. Die Frage nach der Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Perspektive auf das Ganze hin zu überschreiten, gar nicht mehr zu stellen, nennt der Philosoph Rüdiger Safranski die „höhere Dummheit der Realitätstüchtigen“. Mit Klimawandel, globaler Finanzkrise etc. werden wir heute immer öfter mit den Folgen konfrontiert. Müssen wir uns aber damit abfinden, dass wir moralisch aufgefordert sind, in Übereinstimmung mit unserer Vernunft zu handeln, obgleich wir niemals erfahren können, ob der Versuch selbst überhaupt vom Ganzen her Sinn macht? Suchenden ist mit Glaubenssätzen aber nicht geholfen, solange sie „Sätze“ bleiben, ohne Anbindung an eigene Erfahrungen jenseits von Selbstberuhigung und Selbstbetrug. Mein Bewusstsein kann sich nur als abgegrenztes „Ich“ erleben. Und nur Abgegrenztes kann ihm zum Gegenstand werden.Wie erfährt das „Ich“, dass es eingebunden ist in ein Ganzes, bevor der Geist sein Werk des Abgrenzens und der Selbstabgrenzung tun kann? Die Sprache rennt hier gegen eine Grenze an. Im Anrennen aber kann sichtbar werden, dass es sich um die Erfahrungen einer Art „Berührung“ handeln könnte. Es wird kein neues „Etwas“ wahrgenommen.Vielmehr finden die Gegenstände der Erfahrung und das erfahrende „Ich“ selbst durch diese Berührung mit einem Größeren und Ganzen ihren Platz und darin ihre Bedeutsamkeit neu – wie die Erfahrung der Liebe der Erfahrung des Menschen keinen weiteren „Gegenstand“ hinzufügt, sondern die Welt als Ganzes in ein anderes Licht taucht.Wir werden mit der Ahnung einer tieferen Verbundenheit zurückgelassen, die aber schwer noch in Sprache zu fassen ist. Die Neuzeit hat nicht nur die Frage auf die Tagesordnung gesetzt, wie menschliche Auto-

Dezember 2011/4 Jesuiten 3 nomie sich selbst verwirklichen kann, ohne maßlos zu werden. Es findet sich zu Beginn der Neuzeit auch ein spiritueller Weg, mit diesem Problem umzugehen. Der heilige Ignatius war ein wirklich radikaler Gottsucher. Für Ignatius geht es darum, den Willen Gottes für sein Leben zu finden, dabei nicht um die Rückkehr zur Fremdbestimmung. Es ist wie bei der Liebe: Der Geliebte findet die Antwort darauf, wer er wirklich ist, im Moment der Liebe in den Augen dessen, der ihn liebt. Pilger durch die Landschaft der Seele Wie so oft beginnt jene große Geschichte mit inneren Impulsen, die aus der Wüste der Langeweile entstehen. Ignatius liegt mit einem zerschmetterten Bein, das nicht heilen will, auf dem Krankenbett. Sein Leben als Edelmann bei Hof ist an sein Ende gelangt. Das Träumen vom Rittermut ermüdet ihn. Er beginnt das „Leben Jesu“ von Ludolf von Sachsen und Heiligengeschichten zu lesen. Eine innere Entdeckung macht den Unterschied! Das Träumen von Heldentaten in der Nachfolge Christi „sättigt“ seine Seele länger als andere Tagträume. Es ist eine erste Beobachtung und Unterscheidung von inneren Seelenbewegungen mit weitreichenden Konsequenzen. Die wach werdende Achtsamkeit auf die inneren Seelenbewegungen führt ihn aus der Depression nach dem Zusammenbruch seines alten Lebens zu einem neuen Aufbruch als Pilger durch die Landschaft seiner Seele, als Ordensgründer und gesuchter Begleiter anderer Suchender mit Hilfe jenes Instrumentariums, das er bei der eigenen Suche gefunden hat. Nun ist es theologisch gar kein unproblematisches Unternehmen, davon zu sprechen, Gottes Willen für das eigene Leben zu finden, denn in der Theologie betonen wir, dass wir Gott nicht festmachen dürfen an unserenVorstellungen. In der Verkündigung und in der spirituellen Praxis wagen wir dann andererseits sehr oft steile Aussagen, worin denn heute und hier der Wille Gottes zu finden sei. Das Problem ist doch aber, dass Gott selbst vom Menschen nicht wahrgenommen werden kann. Er ist der Ganz-Andere, der Immer-Größere. Er ist das Ganze, das alles umschließt und in allem umschlossen ist. Gott stellt sich dem Mose selbst als ein namenloser Gott vor, als Ich bin der Ich-bin-Da. Gott selbst bleibt außerhalb des Erfahrbaren, weil er in allem Erfahrbaren ist. Erfahrbar ist aber die Berührung durch seine Gegenwart. Der Geist Gottes ist Schöpfer eben nicht im Sinne eines bloßen Auslösers am Anfang der Schöpfung, sondern er atmet und wirkt in allem Lebendigen jederzeit und ist so bleibende Ursache der Schöpfung. Einerseits gilt also: Wer Ihn an einem Satz, einem Gedanken festmachen will, der verstößt gegen das Verbot, sich ein Bild dieses namenlosen Gottes zu machen. Für Ignatius zeigt sich andererseits doch Gottes Wille

indirekt in Bewegungen, die Sein Dasein und Wirken in unseren Seelen auslöst. Berührung weckt unsere Reaktion. Selbst im normalen Leben merken wir unsere unwillkürlichen Reaktionen manchmal, bevor wir die Berührung selbst realisieren.Wie bei jeder Form der Berührung, so weckt auch die Berührung durch Gottes Wirken in unseren Seelen Reaktionen. Sie weckt in uns – wie Ignatius sagt – Trost, also Gefühle der Annahme, des Einwilligens, der Harmonie mit dem Ganzen und unserem Schicksal, wie auch Reaktionen der Abwehr, also Gefühle des Zorns, der Verweigerung, der Resignation etc. Ignatius lernte diese Reaktionen auf Ursache und Ziel hin zu lesen: Was für eine Qualität haben diese Regungen und wohin wollen sie mich bewegen? Wie ich Berührung erfahre, hängt davon ab, welche lebensgeschichtlichen Erfahrungen sie bei mir gerade und an dieser Stelle wachruft, ob sie diese heilsam aktiviert und in den Lebensfluss bringt, oder Widerstände und Blockaden hervorruft. Unsere Seelenregungen sind also je nachdem, worin sie wurzeln und worauf sie abzielen, geprägt durch einen Lebens-förderlichen oder eben Lebens-feindlichen Charakter, einen Geist des Wachstums oder der Stagnation. Wachsen in der Liebe Der Maßstab, ob in einer Bewegung Gottes Geist atmet, ist also die Frage, ob mich diese Bewegung mehr wachsen lässt, wachsen hin auf mehr Lebenskraft, Versöhnung und Einheit, wachsen in der Selbstannahme, der Liebe und der Kraft, die Aufgaben anzunehmen, die uns Menschen aus unserer Rolle erwachsen, in den Fußstapfen Gottes Weltgestalter und Bewahrer zu werden. Wo will in mir etwas Fleisch werden von jenem Geist, den ich kennengelernt habe, wenn ich die Person Jesu, sein Leben und Handeln betrachtet habe? Die Jünger von Emmaus erzählen dem Fremden, der mit ihnen geht, das Ganze des Lebens Jesu nochmals. Der Berührung mit dem Fremden aber macht sie darauf aufmerksam, dass sie trotz des gewaltsamen Todes Jesu noch nicht fertig sind und dass ihr Herz doch brennt. Deshalb können sie umkehren und dem Raum geben, was vom Leben Jesu in ihnen lebendig ist und weiter wachsen will. Das ist der Beginn der Kirche. So tritt in den seelischen Auswirkungen, wie Stimmungen, Lebensgefühlen, Einfällen, die an den Rand unseres Bewusstseins treten, der Schöpfer selbst in unsere Erfahrung ein, wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wurde, sichtbar bleibt in den Wellen, die er auf der Oberfläche eines Sees schlägt. Der hörende Mensch aber ist der, der einwilligt in das Wirken jener Kräfte in sich selbst, in denen sich das Wirken des Schöpfers zeigt. So sind Menschen, nicht Sätze,Ausdruck des Willens Gottes. Das ist der Kern des Christentums. Tobias Zimmermann SJ 4 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele

Dezember 2011/4 Jesuiten 5 Schwerpunkt Wenn böser Geist herum spukt Auf seinem Krankenlager in Loyola ließ die Lektüre der Ritterromane Ignatius mit Leere und Missmut zurück. So entdeckte er die Wirkungen des „bösen Geistes“. Natürlich meinte er damit nicht den Leibhaftigen, der mit Bocksfuß und Schwefelgeruch hinter den Menschen her ist. Psychologisch feinsinnig erkannte Ignatius, dass sich übler Geist in unseren inneren Regungen zeigt: In Gefühlen, Gedanken und Haltungen, die dann Wort und Tat werden können. Dieser böse Geist ist in seinen Anfängen manchmal schwer zu erkennen.Was kann uns auf diesen üblen Geist aufmerksam machen? Und wie damit umgehen? Im Folgenden einige Beispiele: Wenn ein Gedanke, einVorhaben oder eine Tat unbedingt geheim gehalten werden will, dann ist daran meist etwas faul. Der üble Geist liebt es, verborgen zu bleiben. Auch wenn sich unser Blick aus unerfindlichen Gründen trübt, Gedanken wirr werden, eine Atmosphäre aggressiv aufgeheizt wird oder Verhalten peinlich entgleitet, treibt böser Geist hinter den Kulissen sein Unwesen. Er liebt es, zu verwirren. Er will Freude und Frieden rauben. In einem solchen Fall ist es gut, ihm möglichst kein Gehör zu schenken. Ignatius warnt davor, in Zeiten der Verwirrung wichtige Schritte zu setzen oder einmal getroffene Entscheidungen zu verändern. Immer wieder lässt sich übler Geist auch am fehlenden guten Maß erkennen. Er liebt es, zu übertreiben oder gute Dinge unangemessen dunkel erscheinen zu lassen. Er zeigt sich in einem quälenden inneren Kritiker, der mich und alles andere herabzieht, oder in befremdlicher euphorischer Stimmung. Was maßlos und verstiegen anmutet, kommt gewöhnlich vom bösem Geist. Was uns andauernd überlastet oder mit Gewalt, Krampf und viel Hektik verbunden ist, lässt seinen Einfluss erkennen. Oft lässt böser Geist auch Dinge zu wichtig erscheinen. Wir werden abhängig und süchtig. Besonders mag es der üble Geist, im Reden Unheil zu stiften. Oft wird verallgemeinert und werden Menschen mit scheinbar offenkundigen Gründen verteufelt. Andere werden stark idealisiert.Auch gibt es in unserer Gesellschaft Menschen, die mit der Gewalt ihrer Worte andere lieblos überfahren. Der üble Geist, den Ignatius erkannt hat, spukt meist zuerst in unseren Gedanken und Gefühlen herum. Er ist verleiblicht in unseren inneren verkehrten Regungen. Diese können nach und nach auch das Sprechen und Handeln bestimmen und viel Schaden anrichten, wenn sie nicht ihres „bösen Geistes“ entlarvt werden. Josef Maureder SJ

6 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Die Unterscheidung der Geister Pater Georg Mühlenbrock SJ sagte, dass es mehr auf die „gute Nase“ und weniger auf das Gehirn ankommt, wenn man die Geister der Zeit unterscheiden will. Seine Erfahrungen, was in der Regel auf die Herkunft vom Geist Gottes schließen lässt, umschreibt er mit zehn Leitsätzen: 1. Wenn mir für ein Vorhaben gute Motive zurVerfügung stehen. 2. Wenn mir auch die nötige Zeit und Kraft dafür gegeben sind. 3. Wenn sich etwas gut einfügt in den Rahmen meiner anderen Aufgaben. 4. Wenn sich mir etwas „wie von selbst“ nahe legt. 5. Wenn ich bei der Erwägung eines Vorhabens ein „gutes Gefühl“ habe, auch wenn das Vorhaben schmerzlich und hart für mich ist. 6. Wenn die betreffende Sache auch ästhetisch schön und ansprechend ist. (Sich schön machen für Gott, wie z.B. die Freundin für den Freund.) 7. Wenn ich mir gut vorstellen kann, dass auch Jesus so entscheiden und handeln würde. 8. Wenn ich mich bei dem Vorhaben „in guter Gesellschaft“ befinde. 9. Wenn ein Vorhaben in mir Glauben und Vertrauen hervorruft. 10. Wenn es der Liebe dient, sie ausdrückt und stärkt. Gegen den Willen Gottes ist ein Vorhaben in der Regel dann: 1. Wenn etwas über meine Kräfte geht und mich permanent überlastet. 2. Wenn etwas nur mit äußerster Anstrengung, mit Gewalt und Krampf verwirklicht werden kann, mit Hast und Hektik verbunden ist und Ängste auslöst. 3. Was maßlos und verstiegen anmutet, Aufsehen erregend und sensationell auf mich und andere wirkt. 4. Was ich nur mit dauerndem Widerwillen und Ekel tun kann. 5. Was sich ordinär, primitiv und unästhetisch gibt. 6. Was kleinlich, haarspalterisch und abgehoben wirkt. 7. Was keine Bodenhaftung hat und nicht konkret werden kann (1Joh 4,1-4). 8. Was lieblos ist und sich für mich und andere destruktiv auswirkt. 9. Was nicht zu der Art und Handlungsweise Jesu passt, wie ich ihn kennen gelernt habe. 10.Was mir den Sinn für das Gebet und die Freude daran raubt. Die Regeln von Pater Mühlenbrock finde ich sehr anregend für die eigene Suche nach Formulierungen für den Geist Gottes. Er schreibt: „... in der Regel.“ Das heißt, dass es

Dezember 2011/4 Jesuiten 7 auch anders geht, dass Gottes Geist größer ist, als unsere Überlegungen über ihn. Meines Erachtens hat der Geist Gottes sehr viel mit guter Stimmung zu tun. Er bringt das Leben mit all seinenTönen zum Klingen. Jeder Musiker weiß, dass er sich zuerst in Ruhe auf den Kammerton A einstimmen muss, damit das gemeinsame Spiel gelingen kann. Der christliche Kammerton ist für mich das Leben Jesu. Es braucht Ruhe, bis alle sich auf ihn eingestimmt haben. Im Leben Jesu offenbaren sich menschliche und göttliche Tugenden. Glaube: Ich stelle mich darauf ein, dass Gott jeden Menschen zu einem einzigartigen Kunstwerk geschaffen hat (Ps 139), dass ich für andere geschaffen bin. Das heißt, dass ich von anderen Instrumenten lernen kann,dass meine Konfliktpartner von mir lernen können und ich von ihnen. Der Dirigent Jesus braucht Menschen, die auf die Pauke hauen, und andere, die zart die Saiten zupfen – zur eigenen Freude und zum Wohlklang untereinander. Hoffnung: Ich muss nicht schon heute vollkommen sein. Fehler sind normal. Bei allem Üben ist es Gnade und Glück, wenn die Musik fließt und nicht nur „Noten gespielt werden“. Diese Momente des Fließens sind eher die Ausnahme als die Regel.Das Leben in der Fülle des Geistes Gottes ist in unserer Welt möglich, aber eher die Ausnahme. Liebe: Liebe ich mein Instrument, mein Leben? Sehe ich den Erbauer in dem, wie ich bin? Pflege ich meine Fähigkeiten? Könnte es sein, dass der Bass vielleicht stimmiger für mich ist als die Gitarre? Dass ich von einem Chor zu einer Band wechseln sollte?Wenn ich sehe, dass mein Alltag im Großen und Ganzen stimmig ist, ich Liebe empfangen und weiter geben kann, nehme ich an, dass ich dort bin, wo der Geist Gottes mich haben will. Klugheit: Ist es klug die Gitarre im Regen auszupacken? Braucht das Gute, das in mir ist, vielleicht andere Bedingungen? Gerechtigkeit: Mit einer Klampfe kann man schlecht Bach spielen. Sie ist aber gut für ein Zeltlager. Finde ich für andere und mich das Nötige, das sie und ich zum guten Spiel brauchen? Tapferkeit: Bin ich mutig genug zu sagen: So geht das nicht! Eine klassische Gitarre hat gegenüber 10 Blechbläsern keine Chance! Halte ich durch, wenn mir eine Passage zum 20. Mal nicht gelingt? Mäßigung: Übe ich nicht, so kommt die Musik nicht zum Fließen. Übe ich ohne Pausen, so verkrampfen meine Hände. Die Balance zwischen Arbeit und Freizeit,zwischen Alleinsein und Zusammensein mit anderen, zwischen Gebet und Engagement ist immer wieder neu zu suchen und zu finden. Loben wir Gott mit dem Schall der Hörner, mit Pauken und Tanz, Flöten und Saitenspiel, jede und jeder entsprechend dem, was man kann (Ps 150). Lernen wir – abgestimmt auf unser Leben – zusammen zu klingen, so unterschiedlich und ähnlich wir einander sind. Ludger Hillebrand SJ

8 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Mehr als nur gelesen Wie die Bibel bei der Unterscheidung der Geister hilft Wer anfängt, die Bibel zu lesen, macht schon nach kurzer Zeit erstaunliche Erfahrungen. „Ich empfinde große Sammlung und Leichtigkeit“, sagte eine Teilnehmerin an einem Pilgerseminar. „Ich bin fasziniert von dem regelmäßigen und zusammenhängenden Lesen der Bibel.“ Alles sei sehr konkret.Sie spüre innerlich eine große Zufriedenheit und Freude und merke, dass ihr Interesse am Wort Gottes zunehme. Ein Teilnehmer an einem bibeltheologischen Seminar hatte ganz andere Erfahrungen. Für ihn war der zehntägige Kurs sehr anstrengend. Die tägliche Bibellesung kostete ihn viel Überwindung. Beim Abschlussgespräch sagte er. „Ich finde noch immer keinen richtigen Zugang zu den Texten. Sie sind fremd für mich. Ich fühle große Distanz,Widerwillen und einen unglaublichen Druck. Ich bin unzufrieden und würde mit dem Bibellesen am liebsten aufhören.Wenn ich allerdings einfach weiterlese, merke ich, dass sich in mir auch etwas verändert. Der Druck löst sich. Gelassenheit und Zuversicht stellen sich ein.Wahnsinn.“ So ist das eben: Das Lesen der Bibel hat es in sich.Als ins Wort gebrachte Glaubenserfahrung ist die Heilige Schrift eben nicht nur ein Buch unter vielen anderen. Die Bibel ist mehr. Sie ist die Offenbarung Gottes und als solche bestätigt sie und ermutigt, motiviert und führt in die Sammlung; sie kann aber auch konfrontieren, ratlos machen, verhärten und uns die dunklen Seiten unseres Lebens bewusst machen. All das geschieht beim Bibellesen. Es ist wie in einer guten Beziehung. Auch hier ist nicht immer alles leicht und einfach. Hier wie dort wachsen wir nicht nur in den Momenten der Begeisterung und der Freude, sondern auch in den schwierigen Situationen, wenn wir den Eindruck haben, dass sich der andere von uns zurückzieht. Dies sind schmerzliche Erfahrungen. Wenn wir uns in diesen Zeiten die Offenheit für den anderen bewahren können, dann werden wir in der Beziehung mit der anderen Person nicht nur wachsen und reifen, sondern lernen, den anderen als anderen zu akzeptieren. Mit dem Bibellesen verhält es sich ähnlich. Eine reife Beziehung zum Wort Gottes drückt sich dadurch aus, dass wir die Heilige Schrift in erster Linie nicht deshalb lesen, um uns Wissen über Personen und zeitgeschichtliche Sachverhalte anzueignen oder uns über religiöse und kulturelle Zusammenhänge zu informieren; wir lesen die Bibel dann auch nicht mehr nur deshalb, weil wir persönliche Anregungen suchen und unsere Lebensfragen beantwortet wissen wollen. Eine reife Beziehung mit dem Wort Gottes lässt uns die Bibel lesen, weil wir

Dezember 2011/4 Jesuiten 9 erfahren haben, dass diese Beziehung ein tragfähiges Fundament unseres Lebens ist, der wir uns bedingungslos anvertrauen können. Das klingt fromm und einfach, falsch ist es deshalb aber noch lange nicht. Wer die Bibel liest, der lässt sich auf eine Beziehung ein, die Beziehung mit dem Wort Gottes. Auch wenn das Gelingen dieser Beziehung nicht allein von unserem Engagement abhängt, sind hierfür zwei Grundhaltungen notwendig, in die wir uns einüben müssen: erstens das Absehen von unseren eigenen Vorstellungen, Wünschen und Vorurteilen, und zweitens die Bereitschaft, sich Schritt für Schritt dem Wort Gottes anzuvertrauen und auf seine Anrede zu hören. Die Erfahrungen, die wir dabei machen, sind nicht ungewöhnlich. Selbstverständlich sind sie aber auch nicht. Sie sind wie ein Geschenk, dem wir mit Respekt und Aufmerksamkeit begegnen sollten. „Freundschaft gibt es nicht ohne Hören“, sagte einst der Zisterziensermönch Wilhelm von St. Thierry. Dies trifft auch auf das Bibellesen zu. Wer die beziehungsreiche Bedeutung der Botschaft der Bibel erfahren und verstehen will, der muss sich in ein „hörendes Lesen“ einüben. Das „hörende Lesen“ der Bibel lädt uns dann schon nach kurzer Zeit dazu ein, die lebensfördernde Kraft des Wortes Gottes nicht nur wahrzunehmen, sondern uns von ihm auch in Dienst nehmen zu lassen. Wilfried Dettling SJ Schwerpunkt Absichtslosigkeit Haltung und nicht Werkzeug als Voraussetzung, damit Seelen sich öffnen Das Gespräch beginnt mit der üblichen Nervosität und dem Herantasten an das Thema der Stunde. Nach einer gewissen Zeit des Gesprächs über die Thematik, in der all das Rüstzeug und die Methodik eines Therapeuten ihren Platz haben, lade ich Herrn Mayer in den Bewusstseinszustand der inneren Achtsamkeit ein. Ich schlage vor, Herr Mayer möge seine Aufmerksamkeit von der Themenstellung und von allem, was wir bisher dazu ausgearbeitet haben, wegnehmen und sie auf sich, auf sein gegenwärtiges körperliches Erleben richten. Er könne sich einige entspannende Atemzüge gönnen und das ganze Problem „draußen“ lassen. In diesem „Freiraum“ bitte ich Herrn Mayer, er möge alles zusammennehmen, was wir bislang erarbeitet haben. Er kann auch noch das dazu nehmen, was er nicht weiß, und was doch zumThema gehört – und auch noch alles, was kommen wird, alles „Zukünftige“ dieses Themas. „Lassen Sie das alles ein Ganzes werden und halten Sie ihre Aufmerksamkeit im Brustund Bauchraum – und verweilen Sie mit dem Ganzen eine kleine Weile“. So, oder ähnlich hört sich dann diese Focusing-Intervention an, die den „Felt-Sense“ aktiviert, das Körperwissen anregt – um sich nach einem kleinen

10 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Verweilen in konkreten Gedanken, Bildern oder Strategien zu entfalten. Nach einer kleinen Stille erhellen sich die eben noch nach innen gerichteten Augen, begleitet von einem Atemzug mit der Qualität eines „Aha’s“. Herrn Mayer wird gerade „etwas“ klar. Meine Intervention in diesem Augenblick: „Bleiben Sie noch einen Moment in dieser Erfahrung – lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit weiter im Körper und kosten Sie dieses Empfinden und alles, was damit verbunden ist, eine kleine Zeit aus.“ Was vorher noch unklar und widersprüchlich, noch offen und ohne Lösung war, hat offensichtlich von Innen her einen Schritt auf einen bisher nicht denkbaren Weg gemacht: Herr Mayer fühlt sich körperlich frischer, energievoller, klare Gedanken folgen und ein intentionaler Spannungsbogen, hin zur Lösung, schwingt im Raum. Für mich ist damit die Arbeit getan! Herr Mayer braucht jetzt „nur noch“ Raum und meine verstehende Aufmerksamkeit, dieses klare Gesamtgefühl auszusprechen und so für sich zu sichern. „Focusing“ Focusing beginnt mit Anhalten und Innehalten, mit dem Aufhören dessen, was ich gerade mache, denke und fühle. Gesucht wird ein Freiraum von all dem, was bedrängt. Die bekannten Gedanken, Gefühle, Impulse und Fantasien tauchen dann schon wieder auf, aber auch neue und unerwartete. Dies ist der Stoff, mit dem wir arbeiten. „Felt-Sense“ Der innere Fortschritt, den Herr Mayer auf diesem Weg macht, entwickelt sich im nächsten Schritt aus einem Erleben, den wir in der Focusingtherapie „Felt-Sense“ nennen. Gemeint ist eine körperliche Empfindung, die hinter Worten und Bildern liegt und von Fühlen, Spüren und Bedeutung bestimmt ist. Immer wenn Sie erleben, dass Sie etwas genau wissen, aber nicht sagen können, was es ist, es ihnen auf der Zunge liegt, nur die Worte dazu fehlen, dann handelt es sich um diesen FeltSense. Sie kennen vielleicht dieses grummelige Gefühl im Bauch, dass etwas nicht stimmt, ohne es näher benennen zu können. Der Körper weiß früher, was wir noch nicht in Sprache bringen können. Entfaltet sich dieses wissende Gefühl in Sprache und Erkenntnis, entspannt sich der Körper und ein Aha-Atemzug steigt auf. Der gesamte Organismus ist an dieser „Geburt“ beteiligt. Körperwissen So wichtig es ist, dass wir als Berater über kompetente Konzepte verfügen, unsere volle Empathie zur Verfügung stellen, der Klient sich bei uns verstanden und aufgehoben erlebt – so wichtig ist die „Bescheidenheit“ und das Vertrauen, dass der tatsächlich neue Schritt aus dem körperlich achtsamen Verweilen des Klienten kommt. Diese von der körperlichen Intelligenz getragenen Schritte sind genauer, präziser und stimmiger als die besten Vorschläge, die wir als Berater geben könnten. Die umfassendste Erkenntnis seiner Selbst mit

Dezember 2011/4 Jesuiten 11 all dem notwendigen Detailwissen hat nun mal nur der Körper des Klienten. Es ist diese Haltung, die dann auch Klienten hilft, ihr Inneres zu öffnen und Vertrauen zu fassen – besonders gegenüber ihrer eigenen Erfahrung. Die Absichtslosigkeit und Offenheit des Therapeuten und des Klienten ermöglichen einen Blick über den eigenen, bekannten Tellerrand hinaus und das Verweilen mit inneren Regungen, die viel weiter und tiefer als Worte reichen. In dieser Atmosphäre finden dann auch heikle Themen ihren richtigen Ort. Sowie ich allerdings in mich oder andere eindringen, wissen, verändern und helfen will, verschließt sich der innere Erlebnisraum. Nur durch absichtsloses Dabeisein öffnet sich das Körperwissen und beschenkt uns mit Einsicht und den nötigenVeränderungsschritten. Der Focusingtherapeut setzt bei all dem auf das innere Streben zum „Heilsein“ und „Entwicklung“, auf die Intentionalität, die unserem Leben innewohnt. Diese körperliche Kraft strebt nach Lösungen und hat die Eigenschaft, den ganzen Menschen in seiner gegenwärtigen Situation mitzunehmen und ihm gerecht zu werden. Der spirituelle Oberton Dieses innere Streben hat von sich aus die Kraft zur Erfahrung des nächsten „stimmigen Schrittes“ auf diesem Weg. Der Schritt wiederum wird in der Regel von einem Gefühl des „Ganz bei mir“ getragen, von „Sinnhaftigkeit“ und ein „Vorwärtsgetragenwerden“, von energetisierendem, entspannendem Empfinden und von ganzheitlichem Verbunden-Sein. Diesen Aspekt des Veränderungsprozesses nennt Gene Gendlin, der Gründer des Focusings, „spirituellen Oberton“. Damit will er hervorheben, dass in jedem stimmig erlebten Schritt ein größeres Ganzes mitschwingend erlebt werden kann. Focusing ist nicht identisch mit Gebet oder Meditation. Hier wie dort kann ich aber Erfahrungen mit meiner eigenen innerenWelt machen und Kontakt zu einer anderen aufnehmen, mit dem Grundstoff, der über mich hinausweist. Beide Wege haben mit inneren Prozessen und Intuition zu tun. Der Christ wird auf seinem Weg primär die Frage nach der Begegnung mit Gott stellen, nach seiner persönlichen Berufung – seiner Lebenslinie – und wie er diese leben kann. Focusing hilft in den inneren Erfahrungsraum einzutreten und beschreibt, wie man sich in diesem inneren Raum verhalten kann. Es hilft dem Klienten eine kleine Zeit in einer einfachen, freundlich-neugierigen Zuwendung zu sich selbst und seinem inneren Erleben zu verbringen und dies in Sprache zu fassen. Der Therapeut nutzt dabei Grundhaltungen und Rüstzeug, das auch in der geistlichen Begleitung eingesetzt werden kann.

12 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Eine Übung zum Experimentieren mit „inneren Regungen“ Nehmen Sie sich ca. 15 Minuten Zeit. Sprechen sie sich selber zu: „Ich habe jetzt Zeit!“ Erlauben sie sich eine Haltung mit dem Geschmack eines „Ich sitze jetzt da, tue nichts, und das Gras wächst von alleine.“ Eventuell bemerken Sie, welche Resonanz dieser Satz und diese Haltung in Ihnen auslösen.Vielleicht entspannt sich etwas im Körper oder es öffnet sich ein innerer Raum. Jetzt können Sie sich Ihrem Empfinden zuwenden.Wie Sie sich fühlen, was Sie bewegt. Seien Sie ganz neugierig auf das,was da aufsteigt und sich zeigen will. Geben Sie all dem etwas Zeit und Aufmerksamkeit.Wenn sich für Sie ein bestimmtes Thema als besonders wichtig erweist, beschäftigen Sie sich etwas damit. Dann wäre es gut, diesesThema aus der eigenen inneren Welt heraus in Form eines Symbols in einen guten Abstand vor sich und vor Gott zu bringen. Nicht zu nah, und nicht zu weit weg. Lassen sie jetzt das Ganze des Themas entstehen. Alles, was Sie dazu wissen, alles, was damit verbunden ist, alles, was damit war und auch alles, wie es werden kann. Denken Sie nicht zu viel über die einzelnen Aspekte nach, sondern lassen Sie das Thema ein „Ding“ werden. Halten Sie innerlich Abstand zum „Thema“ und warten Sie einfach auf alles, was sich in Ihnen meldet: Worte, Bilder, Körperimpulse, Farben, Geschmäcker…, und betrachten Sie all dies neugierig. Warten Sie ab, was geschieht. So können Sie mit sich selber und vor Gott mit dem Thema verweilen. Der Autor der „Wolke des Nichtwissens“ beschreibt das so: „Lass dieses Etwas mit Dir tun, was es will. Lass sein Wirken an Dir geschehen. Sei nur achtsam dabei und störe es nicht. Misch Dich nicht ein, um ihm zu helfen. Sei während dieses Geschehens wie blind. Höre auf, etwas wissen zu wollen. Es reicht, dass Du Dich von einem Etwas freudig bewegt fühlst, von dem Du nicht weißt, was es ist; Du bist Dir nur bewusst, dass Du bei diesem Impuls an nichts denkst, was weniger ist als Gott, und dass DeinVerlangen frei von Eigeninteresse und ohne Umwege unmittelbar auf ihn gerichtet bleibt.“ Bevor Sie wieder zurück in den Alltag kommen, fragen Sie sich: „Was habe ich in den letzten Minuten Neues erfahren? Was könnte ich jetzt tun?“ VielVergnügen beim Experimentieren! Klaus Renn Johann Spermann SJ

Dezember 2011/4 Jesuiten 13 Schwerpunkt Das innere Team Wir haben viele innere Stimmen, die sich zu den unterschiedlichsten Anlässen melden können. Manchem wird erst dann klar, dass es in seinem Inneren eine ganze Welt gibt. Wann habe ich zum letzten Mal mein inneres fröhliches Kind gehört? Wann habe ich mich um meine zarten und verletzten Bereiche gekümmert? Oder wann hat mein innerer Protestierer mich vor diesem oder jenem gewarnt? Im Alltagsbewusstsein nehme ich all diese Stimmen nicht wahr. Ich bin darauf konzentriert, meinen Tag zu bewältigen. Doch es gibt sie, und sie wollen mir helfen, Freiheit einzuräumen, meine Wünsche zu koordinieren. Das „innere Parlament“ kennt jeder, der schon mal eine Entscheidung treffen musste. Da kommen die Befürworter und die Gegner zu Wort. Manchmal werden über Tage hinweg lange Debatten geführt. So wie es ein inneres Parlament gibt,kann es auch ein inneresTeam geben. Probleme, Krisen, Rückschläge schlagen mich erst einmal nieder. Ich fühle mich down. Jeder Mensch erlebt Belastungen, kleine und große Katastrophen, oder hat mit Phasen zu kämpfen, in denen man glaubt: „Das schaff ich nicht.“ Oder: „Ich will es ändern, aber ich kann es nicht.“ Doch plötzlich meldet sich jemand in mir zu Wort: meistens ein leises, zartes Gefühl, oder auch nur die Ahnung davon. Es gibt innere Helfer, nicht nur einen, sondern manchmal eine ganze Reihe,die auch noch gut zusammenarbeiten können. Und jeder von ihnen hat seine eigene Stimme, die ich exemplarisch vorstelle: Der Optimismus, der sagt: „irgendwie werde ich es trotzdem schaffen“. Die Akzeptanz: „OK, so ist es halt. Es gefällt mir da teilweise gar nicht, aber es ist so.“ Die Lösungsorientierung: „Was genau wird mir helfen, da herauszukommen?“ Die Vertreibung aus der Opferrolle: „Genug gejammert. Es ist schwer, aber ich krempel jetzt die Ärmel hoch.“ Die Verantwortung: „Ich entscheide das jetzt so, und wenn es schief geht, werde ich daraus lernen und es das nächste Mal besser machen.“ Die Orientierung nach Unterstützern: „Was ich allein nicht schaffe, das schaffen wir eben zusammen.“ Und die Zukunftsplanung: „Die Richtung stimmt. Da geht’s lang.“ Es können bei jedem ganz andere Stimmen sein, oder auch viel mehr. Sie klingen zusammen wie ein Team, verstehen sich untereinander, kennen sich, wissen um den anderen. Sie können das ganz leicht einmal ausprobieren, wer da so bei Ihnen mitspricht! In Beratungs- und Therapiegesprächen wende ich diese Methode immer wieder an. Sie geht auf die vorhandenen Ressourcen ein. Denn oft ist der Blick festgelegt auf das Problem und seine Beschreibung. Mein inneres Team hilft mir in meiner Wirkmächtigkeit, mit dem Problem umzugehen. Mein inneres Team hat sogar einen Chef – und der bin ich! Holger Adler SJ

14 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Von Schafen und Hirten „Aber an Gott habe ich immer geglaubt!“, beteuert mir die ältere Dame, die vor langer Zeit aus der Kirche ausgetreten ist und jetzt wieder eintreten möchte. Sie schaut mich freundlich an und doch ist eine Spur von Selbstbehauptung in ihren Worten nicht zu überhören. Es dürfte ihr auch nicht ganz leicht gefallen sein, zu einem Vertreter der Institution zu gehen, mit der man gebrochen hatte, um diesen Schritt rückgängig zu machen. „Schön, dass Sie wieder dabei sein wollen! Das freut mich, aber erzählen Sie doch mal: Was hat Sie denn damals bewogen, aus der Kirche auszutreten?“ Meist war es der Ärger über einen Kirchenvertreter, sei es der Pfarrer vor Ort oder der Papst in Rom. Auch eine zu strenge katholische Erziehung, die zu viele lebenswidrige Vorgaben machte und von der man sich erst einmal lösen musste, um sein Eigenes zu finden, wurde immer wieder genannt. Nicht ansprechende Gottesdienste, die einen leer zurückließen, hatte ich erwartet zu hören, sie waren aber kein ausreichender Grund, diesen gewichtigen Schritt zu tun, höchstens das i-Tüpfelchen. In Berlin kam noch die Mode dazu, alle seien „damals“ ausgetreten. Fehlt noch die Steuer. Sie kam oft, aber nicht selten folgte auf diese Begründung ein verlegenes Lächeln, als ob man dem eigenen Argument selbst nicht ganz Glauben schenken würde. Na ja, man sei jung gewesen und konnte jeden Pfennig brauchen, aber letztlich sei es nicht wegen des Geldes gewesen, man war an religiösen Fragen einfach zu wenig interessiert oder meinte, dafür keine Institution zu brauchen. „Ich habe gemerkt, ich bekomme das nicht alleine hin, an Gott glauben.“ Das ehrliche Eingeständnis verblüffte mich und rührte mich zugleich an. Ein vierzigjähriger Mann will wieder dabei sein und macht keinen Hehl daraus, dass sein Kirchenaustritt ihn nicht weitergebracht hat. Im Gegenteil, alles sei im wahrsten Sinne des Wortes immer unverbindlicher geworden und eine junge Frau meint: „Ich will einfach wieder ganz dazugehören.Wenn ich jetzt in einen Gottesdienst gehe, dann fühle ich mich, als ob ich mir etwas erschwindeln würde, es stimmt so einfach nicht!“ Lebenserfahrungen Ist erst einmal das Eis gebrochen, dann erzählen die Menschen aus ihrem Leben. Sie berichten davon, dass der Himmel bei der Geburt ihres Kindes spürbar gegenwärtig war oder, dass sie sich tief drinnen gehalten fühlten, selbst als der Arzt die befürchtete Diagnose aussprach. Sie erinnern sich an Stoßgebete, dieWirkung zeigten und erzählen von Fehlern, die lange zurückliegen, die ihnen

Dezember 2011/4 Jesuiten 15 aber immer noch nachgehen und die sie sich einfach nicht selbst verzeihen können, so sehr sie es auch versuchen. Zeit, um erneut die Gemeinschaft derer zu suchen, die fest an die Wirklichkeit Gottes glauben, die mit ihr rechnen und gemeinsam hoffen, dass diese Wirklichkeit immer mehr Wirkung zeigen möge, im eigenen Leben, in der Welt. Schon erstaunlich, vor meiner Arbeit in der Katholischen Glaubensinformation in Berlin hätte ich gesagt, die Geschichte Jesu von dem einen Schaf, dem der Hirte geduldig nachgeht, stimmt doch nicht! Wo gibt es denn einen Hirten, der 99 Schafe stehen lässt, um dem einen verlorengegangenen nachzulaufen? Aber es gibt ihn wirklich und immer, wenn jemand wieder in die Kirche eintreten wollte, dann dachte ich mir: Da hat der Himmel viel Geduld investiert, jetzt vermassel das nicht! Bernhard Heindl SJ Gedanken zur geistlichen Begleitung Der Autor dieses „Ignatianischen Impulses“, Elmar Mitterstieler SJ, ist ein langjähriger Spiritual, Exerzitien- und geistlicher Begleiter und lebt in Wien. Sein Buch zeigt Wege auf für Menschen, die Begleitung suchen, und ebenso für Menschen, die selbst andere begleiten:Was will in mir zum Leben kommen, was ist meine Lebensspur? Dies sind Fragen, um die es in der geistlichen Begleitung geht. Entlang des Exerzitienweges, der zurückgeht auf Ignatius von Loyola, legt der Autor seine persönlichen Leitmotive der geistlichen Begleitung offen dar. Solch ein Teilhaben-Lassen an der eigenen Grundhaltung lädt den Leser dazu ein, sich anstecken zu lassen von dieser von Hoffnung getragenen Liebe in das Leben im Angesicht des unendlich guten Schöpfers. Es ist ein kleines Büchlein, dessen Inhalt eine große Liebe ausstrahlt, von der jede Person sich berühren lassen darf. Elmar Mitterstieler SJ Den verschwundenen Flüssen nachgehen Ignatianische Impulse, Band 30 Echter Verlag,Würzburg 2008

16 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Ethos Geistlicher Begleitung Wenn etwas nur noch gelobt wird, wenn kaum kritische Stimmen zu hören sind, ist eine gewisseVorsicht durchaus angebracht. Geistliche Begleitung innerer Regungen und Bewegungen ist ein Instrument, und wie jedes Instrument ist sie zweischneidig. Sie kann zum Besten und zum Verderben eingesetzt werden. Anders als viele andere Instrumente, deren Einsatz recht sichtbar von statten geht, steht Geistliche Begleitung jedoch in einem besonderen Gefährdungsszenario. Sie operiert im Verborgenen: Zwei Menschen sprechen hinter verschlossenenTüren miteinander und vereinbaren Stillschweigen. Sie setzt eine asymmetrische, gestufte Beziehung voraus: Einer lässt sich begleiten, der andere begleitet und wird selbst nicht Thema im Gespräch. Derjenige, der begleitet, kann in keiner Weise von außen kontrolliert werden. Er/sie reflektiert sein/ihr Handeln ausschließlich selbstbestimmt und erfährt nur das Korrektiv, das er/sie selbst sich sucht. Dazu kommt der spezielle Fokus: innere Bewegungen der Seele begleiten heißt, einen Zugang eröffnet zu bekommen zum Intimsten der Identität eines Menschen. Es geht um die ganz feinen Strukturen der Persönlichkeit, deren Veränderung jedoch erhebliche Folgen haben kann. Nun ist dieses Gefährdungsszenario keineswegs einzigartig. Geistliche Begleitung teilt es mit vielen helfenden Professionen, insbesondere natürlich mit der Psychotherapie und der Medizin. Seit dem Eid des Hippokrates begegnet die Medizin dieser Herausforderung – und in den letzten Jahrzehnten übernehmen die anderen freien Professionen zunehmend diese Vorgehensweise – durch eine Selbstverpflichtung auf ein Berufsethos. Geistliche Begleitung tut gut daran, sich dieser Vorgehensweise anzuschließen. In den Ausbildungen wird die Frage des Ethos schon immer unter den Stichworten „Nähe und Distanz“ und „Rolle und Aufgabe des Begleiters“ verhandelt. Ausgehend von den USA ist in den letzten Jahren ein Impuls herangereift, das Ethos Geistlicher Begleitung zu kodifizieren und die Begleiter darauf einzuschwören. In Deutschland wurde kürzlich ein solcher Text von der Arbeitsgemeinschaft der Exerzitiensekretariate der Diözesen vorgelegt und ist jetzt auf Ebene der Bischofskonferenz zu diskutieren. Balance von Distanz und Nähe Einige Elemente eines solchen Ethos Geistlicher Begleitung sind im Folgenden aufgeführt. Sie dienen dem Schutz beider, des Begleiteten wie des Begleiters bzw. der Begleiterin. Sie setzen deshalb gezielt beim Beziehungsgeschehen an und versuchen, die Asymmetrie der Beziehung durch transparente und einklagbare Regeln auszugleichen.

Dezember 2011/4 Jesuiten 17 Geistliche Begleitung ist eine frei eingegangene Beziehung zweier Erwachsener. Geistliche Begleitung hat eine feste Form und einen Rahmen, der nicht verlassen wird. Auf diese Weise entsteht eine Beziehung, die von der vereinbarten Aufgabe – die Gottesbeziehung des/der Begleiteten zu stützen – getragen wird und nicht auf Emotionen, Sympathien oder Freundschaft aufbaut. Geistliche Begleiter/innen begleiten Menschen, die sich selbst vorstehen können, ihr alltägliches Leben geregelt bekommen und ausreichend psychische Stabilität mitbringen, um mit den Impulsen und der inneren Dynamik geistlicher Reifung verantwortlich umgehen zu können. „Jeder gute Christ muss mehr bereit sein, eine Aussage des Nächsten zu retten, als sie zu verdammen.“ (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen 22) Geistliche Begleiter handeln geprägt von grundsätzlicher Empathie, Echtheit, Respekt und Ehrfurcht gegenüber dem Menschen, seinen Worten, Handlungen und Gefühlen. Geistliche Begleiter/innen wachen darüber, dass in den Gesprächen immer eine für beide Seiten stimmige Balance von Nähe und Distanz eingehalten wird. Sie lassen nie zweideutige Situationen zu und handeln immer so, dass ihr Verhalten jederzeit allen öffentlich gemacht werden kann. Der/die Begleiter/in unterliegt einer strengen Schweigepflicht. Der/die Begleitete hingegen hat das Recht, alles Gesprochene öffentlich zu machen. Gleich zu Beginn der Geistlichen Begleitung achten die Begleiter/innen darauf, dass ein transparenter, wenn auch in der Regel nicht schriftlich fixierter,Vertrag für die Begleitung entsteht. Im Verlauf wird die Stimmigkeit der Beziehung in regelmäßigen Abständen überprüft. Jeder Begleiter/jede Begleiterin akzeptiert es unverzüglich, ohne zu argumentieren und ohne Argumentation einzufordern, wenn der/die Begleitete die Begleitung beendet. Geistliche Begleiter/innen verfolgen bei den Begleiteten niemals eigene, insbesondere sexuelle oder finanzielle Interessen.Ausnahme ist ein im Vertrag vereinbartes Honorar. Sie vermeiden allesVerhalten, was ihnen um ihrer selbst, um ihres Status oder um ihres Selbstwertgefühls willen, Macht über den/die Begleitete/n verschaffen würde. Der/die Begleiter/in ist für Geistlichen Begleitung hinreichend ausgebildet, bildet sich regelmäßig weiter und nutzt Möglichkeiten der Kollegenberatung und/oder Supervision. Der/die Begleiter/in bemüht sich um ein lebendiges geistliches Leben und lässt sich selbst geistlich begleiten. Wichtiger als diese Regeln ist, dass Geistliche Begleitung in jedem Moment ihrem Ziel verpflichtet bleibt. In Anlehnung an die Unterscheidung der Geister lässt sich deshalb das Ethos knapp zusammenfassen: Hin zu einem Mehr an Glaube, Hoffnung und Liebe – in einem Mehr an Freiheit, Leben und Lebendigkeit. Peter Hundertmark

18 Jesuiten Schwerpunkt: Bewegungen der Seele Schwerpunkt Innerlich und engagiert „Ich horche in mich rein.In mir muss doch was sein. Ich hör nur Gacks und Gicks. In mir da ist wohl nix“ kalauert Robert Gernhardt und bewahrt unser Thema vor der Einseitigkeit: „Bewegungen der Seele“, innere Regungen, das ist mehr als reine Innerlichkeit. In der Unterscheidung der Geister geht es nicht darum, sich aus der Welt zurückzuziehen, sich in falschem Sinne zu entweltlichen, sondern sich – unterscheidend und differenzierend – in ihr zu engagieren, sich in Anspruch nehmen und sich in ihre Vielfältigkeit und Uneindeutigkeit verwickeln zu lassen – um immer wieder neu zu unterscheiden. „Innerlich und engagiert“ – was in dieser Thematik als „innen“ auftritt, gibt es nicht ohne „außen“, denn „innen“ und „außen“ sind aufeinander bezogen: Zum einen ist Äußeres vielfach Anstoß, überhaupt innere Regungen wahrnehmen und unterscheiden zu müssen: So, wenn politische Ereignisse meine Stellungnahme und mein Engagement fordern – aber welches? So, wenn ich im Beruf oder im privaten Leben plötzlich vor eine neue Situation gestellt werde und mich entscheiden muss – aber wie und wann? So, wenn die Unübersichtlichkeit meines Alltags mich zwingt, Ordnung in mein Leben zu bringen – all das fordert die Frage nach der Ursache, der Qualität und dem Ziel der inneren Regungen, die mit den Ereignissen einhergehen, heraus. Zum anderen müssen die Prüfung und die Unterscheidung der inneren Regungen wieder in ein neues, vertieftes Engagement hineinführen. Die Geistlichen Übungen, die Ignatius lehrt, dienen schließlich dazu „den göttlichen Willen zu suchen und zu finden in der Einrichtung des eigenen Lebens zum Heil der Seele“. Es wäre umgekehrt ein Zeichen des „bösen Geistes“, wenn die Unterscheidung der inneren Regungen kein Fleisch annehmen kann und nicht in ein neues und verändertes Engagement führte. Der folgende Beitrag gibt ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Lebensweg einlässt auf die Fragen der Zeit, wie in der Kontinuität der Entscheidungen Grundoptionen sichtbar werden und zu immer neuem Engagement führen. Es ist eine Unterscheidung der Geister in einer komplexen politischen Situation. Der Autor des Artikels ist ein ägyptischer Jesuit, der in Kairo ein Kulturzentrum in der Nähe des Jesuitenkollegs leitet. Geschrieben ist er noch vor den dramatischen Ereignissen des 9. Oktober, in denen die Armee christliche und solidarische muslimische Demonstranten attackierte – und erinnert somit an eine Hoffnung, die nicht verschüttet sein möge. Tobias Specker SJ

Dezember 2011/4 Jesuiten 19 Mein Weg auf den Tahrir-Platz Was bedeutet mir der Aufstand des 25. Januars 2011, den die ägyptischen Jugendlichen begonnen haben? In gewisser Weise kann ich sagen, dass er eine lang gehegte Sehnsucht aufnimmt: Schon als ich sehr jung war, träumte ich von einer besseren Welt. 1956, ich war neun Jahre alt, brach der Suez-Krieg aus. Ich wurde Zeuge des erschreckenden Schauspiels, das die Bombardierung des Flughafens von Luxor bot, ganz nahe bei meinem Dorf. Ich glaubte, dass unser Dorf getroffen worden sei. Aufgewühlt durch diese kriegerische Aggression wuchs in mir im Laufe der Jahre ein starkes Gefühl für Patriotismus heran. Bestärkt durch die Lieder, die uns in der Schule von den Jesuiten gelehrt wurden, versprach ich mir selbst, dass mein Kampf der Freiheit, der Gerechtigkeit und der menschlichenWürde gelten sollte. Doch zunächst schlossen sich die Niederlage von 1967 und der Krieg von 1973 an. Für eine Spiritualität der Freiheit Ich bemerkte im Laufe meines Lebens, dass die religiösen Autoritäten – seien es Christen oder Muslime – die Leichtgläubigkeit und die Unwissenheit der Gläubigen missbrauchten. Sie säten Angst, um sich die Gläubigen mit leichten Lösungen und schematischen Antworten gefügig zu machen. Das lehrte mich – selbst sowohl religiöser Mensch als auch Staatsbürger –, mich kritisch zu überprüfen und zu reinigen, um meinen Brüdern, wer sie auch seien, zu dienen. Ich musste mich dabei vom traditionellen Bild der Religion loslösen, das darin bestand, die Messe auf koptisch zu lesen und Riten zu vollziehen, die kein Glaubender mehr verstand. Mir ist es gelungen, mich aus dem Kokon der traditionellen Religion in Ägypten zu befreien, die sich oftmals in das Privatleben der Glaubenden einmischt, anstelle sie zu freien und selbstverantwortlichen Menschen zu machen. Mir ist es gelungen, den Graben zu überbrücken, der sich in Ägypten oftmals zwischen dem religiösen Leben und bürgerlichem Engagement auftut. Es war die Zugehörigkeit zum Jesuitenorden, die mich eine Spiritualität hat entdecken lassen, die die Freiheit des Individuums respektiert. Denn die Exerzitien zielen auf die persönliche Begegnung des Einzelnen mit Gott ab, und so muss sich ein Schüler des Ignatius in eine persönliche Dynamik der Gottessuche hineingeben. Einen neuen Anstoß habe ich dann in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie gefunden. Wie das jüdische Volk ist auch die gesamte Menschheit dazu gerufen, befreit zu werden und im Lichte Gottes ihre Wege zu gehen. Die Revolution des 25. Januar krönt die Mühen der langen und schwierigen Jahre der

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