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"Das ist das Ende der Zweistaatenlösung."

Der Judaist und Israel-Kenner P. Christian Rutishauser SJ erklärt, wie sich die aktuellen Konflikte schon im Alten Testament abzeichnen und warum eine Zweistaatenlösung für ihn im Grunde nicht mehr realisierbar ist. Das nachfolgende Interview hat Domradio.de geführt und dankenswerterweise für www.jesuiten.org zur Verfügung gestellt.

P. Rutishauser, was ist das Heilige Land, wenn wir in die Bibel schauen?

Zuerst muss man sagen, dass der Begriff des Heiligen Landes in der Bibel nicht vorkommt. In der hebräischen Bibel wird Abraham, Jakob und Isaak ein Land versprochen. Deshalb redet man besser vom verheißenen Land, vom versprochenen Land. Die ganze Bewegung der Erzväter und der Erzmütter in der Genesis und der Exodus sind Bewegungen auf dieses Land zu. Gott verspricht seinem Volk, den Israeliten, nach dem biblischen Narrativ dieses Land, damit sie dort wohnen. Der Bibel ist ganz klar: Da gibt es bereits eine Bevölkerung. Trotzdem gibt Gott den Auftrag, dass die Israeliten, dass die Erzväter in dieses Land gehen. Die ganze Bibel ist dann ein Aus-dem-Land-heraus-und-wieder-in-das-Land-hineingehen.

"Das Heilige Land ist etwas, was die Christen schaffen."

Das Heilige Land ist etwas, was die Christen schaffen. Auch nicht im Neuen Testament, sondern erst im vierten Jahrhundert setzt das ein, dass die Christen an die Orte zurückgehen, wo die biblischen Ereignisse stattgefunden haben; sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments. Sie errichten Erinnerungsorte, lesen die biblischen Texte dabei. Bei den Konzilien, die in Konstantinopel, in Nicäa, in Chalcedon, also in Kleinasien stattfinden, wo auch unser Glaubensbekenntnis formuliert wird, wird entsprechend dazu eine Kirche im Land gebaut, in Jerusalem, in Bethlehem, um diesen Glauben auch zu feiern. Und damit entsteht das Heilige Land. 

Das Heilige Land ist also ein Konzept, das zusammengeht mit der Vorstellung einer Heilsgeschichte, mit der Theologie, die in der Spätantike von der frühen Kirche formuliert wird. Und so ist das Heilige Land eigentlich ein Pilgerort. Das verheißene Land der alttestamentlichen Bibel ist ein Land, um darin zu wohnen und das Heilige Land der Christen ist ein Land zum Hinpilgern und wieder nach Hause gehen. Das ist der Unterschied auf den Punkt gebracht.

"Gott mutet zu, dass er sein Volk in ein Land hineinführt, in dem es bereits eine Bevölkerung gibt."

Sind dann mit diesem Vorhandensein einer Bevölkerung vor Ort zum Zeitpunkt der alttestamentlichen Landnahme auch schon die Konflikte vorprogrammiert, die wir heute erleben?

Kurz gesagt kann man sagen: Ja. Gott mutet zu, dass er sein Volk in ein Land hineinführt, in dem es bereits eine Bevölkerung gibt. Es geht ja in der Bibel nicht einfach um ein Geschichtsbuch, sondern es geht darum, dass miteinander zusammengelebt wird und dass immer mehr eine Kultur entsteht, die auf Frieden und Gerechtigkeit gebaut ist. Die Israeliten hätten sehr gut in Ägypten bleiben können. Auch Mesopotamien ist eine wunderbare Hochkultur. Das ist ganz im Sinne Gottes und der Bibel, dass wir Kulturen schaffen. Aber es ist noch einmal der Grundimpetus der Bibel, eine Kultur im verheißenen Land zu schaffen, die ganz auf Gerechtigkeit gebaut ist. Oder anders gesprochen: Eine Kultur, die keine Leiche im Keller hat, ist das Ziel, denn alle anderen Kulturen haben Leichen im Keller.

Das ist ein Projekt. Und es ist dann ganz interessant, dass das Volk innerhalb des Narrativs der Tora, der fünf Bücher Mose, die den Kern der Hebräischen Bibel darstellt, nicht im Land ankommt. Es kommt dann an, im Buch Josua, wenn das Land erobert wird. Für uns Christen ist ganz klar, dass das Geschichte ist. Jesus ist dann aber der neue Josua. Und im Neuen Testament gibt es eine einzige Aussage, die Jesus zum Land macht: in den Seligpreisungen. Dort sagt er: "Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben." Also auch Jesus führt auf dieses Land zu. Es ist das reale Land für Juden und für Christen. Aber es ist zugleich auch ein Land, das immer in der Zukunft ist. Es ist ein Land, das auch gerade in der christlichen Theologie nicht nur das irdische Jerusalem, sondern auch das himmlische Jerusalem und nicht nur die irdische Vollendung, sondern auch die himmlische Vollendung ist. Das wird immer zusammengedacht.

"Das gerechte Leben im Heiligen Land ist so eine Leitidee, die wir nie ganz verwirklichen können."

Das gerechte Leben im Heiligen Land ist so eine Leitidee, auf die wir zugehen, aber die wir nie ganz verwirklichen können. Deshalb spricht die klassische jüdische Tradition von einem Messias, der kommen muss, um in dieses Land hineinzugehen. Und für uns Christen ist auch klar: Wirklich den Frieden in diesem Land erreichen, das können nicht wir schaffen, sondern das ist eine utopische, prophetische Idee.

Wie vertragen sich die zum Teil kriegerischen Beschreibungen der Landnahme im Alten Testament, wie zum Beispiel in Jericho, mit dieser friedlichen Koexistenz, von der Sie eben sprachen?

Die friedliche Koexistenz ist eine prophetische Vision, ein messianisches Ziel, auf das wir miteinander hin unterwegs sein sollen; das jüdische Volk mit allen anderen Völkern, wir Christen mit den Juden zusammen. Das ist eine Vision, das ist ein Auftrag, der von der Heiligen Schrift her für dieses Land gegeben ist. Wenn wir religiös darauf schauen: In der Realität läuft es ganz anders, weil wir uns immer wieder selbst behaupten. Daher ist diese Spannung da: Was kann der Mensch letztlich erreichen? Was können wir als religiöse Leute erreichen und was ist letztlich nur mit Gottes Hilfe machbar?

"Die Bibel gibt uns keine Blut-und-Boden-Theologie vor."

Der jüdische Historiker und Publizist Michael Wolffsohn stellt in einem seiner Bücher die Frage: "Wem gehört das Heilige Land?" Was ist Ihre Antwort?

Ganz wichtig ist, dass die Bibel uns keine Blut-und-Boden-Theologie vorgibt. Das Judentum ist nicht die einheimische Bevölkerung. Wenn man ganz natürlich denkt, wäre es damals die kanaanitische Bevölkerung gewesen und heute einfach die Bevölkerung, die schon immer da gelebt hat. Aber es geht in der Bibel gerade um etwas anderes. Wem gehört es also, wenn es eigentlich niemandem gehört? Theologisch würde man sagen, das Land gehört allein Gott. Das ist die Theologie, die auch im Buch Deuteronomium schon vertreten wird. Er gibt dieses Land seinem Volk und den Menschen immer wieder, damit sie dieses Projekt einer gerechteren Gesellschaft bauen. Und immer, wenn sie dieses Projekt nicht verwirklichen, werden sie früher oder später wieder vertrieben.

Das ist die Logik, die bereits im Buch Deuteronomium und nachher auch in der rabbinischen Tradition und in der christlichen Tradition auch immer wieder da ist. Es ist ein Land, um hineinzugehen, um dort zu leben. Und wenn es nicht geht, wird man wieder ins Exil gebracht, das Judentum spricht von der Diaspora. Aber gerade das jüdische Volk ist immer wieder gerufen, diesem Auftrag nachzukommen.

Es gibt zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen auch bei Theologinnen und Theologen Versuche, diese als biblisch prophezeit zu deuten. Was halten davon?

Nichts. Ich glaube nicht, dass man alttestamentliche Prophetien eins zu eins in die Politik übersetzen kann. Es geht nicht um einen Zeitplan. Niemand kann die Geschichte voraussehen. Das zeigt eher, dass man kein Gottvertrauen hat, wenn man glaubt, alles voraussehen zu können. Nein. Es geht um ein ethisches Projekt. Leute, die jedoch sagen: Aha, jetzt kommt ein Endkrieg, die einen schlachten die anderen ab, die haben eigentlich Freude an Gewalt, und die sehen die Opfer nicht. Das ist keine christliche Position. Eine christliche Position sieht das Leid der Menschen, arbeitet sich an der Gerechtigkeit und an der Ethik ab und glaubt, dass Gott darin begleitet und unterwegs ist.

Zuerst haben wir natürlich einen politischen Konflikt vor uns im Nahen Osten, der Ende des 19. und im 20. Jahrhundert entstanden ist. Die Religion spielt dabei eine ganz zentrale Rolle, aber ich möchte die Religion nicht in der Art und Weise von apokalyptischem Denken einbringen. Ich möchte die Religion einbringen als einen Auftrag und eine Erwählung, die wir Juden und Christen haben, um auf eine gerechtere Welt hin zu arbeiten und zu wissen, dass wir es nicht aus eigener Kraft können. Das wäre die Theologie, die ich gerne in diesen Konflikt hineinbringe; aber nicht ein fundamentalistisches Rechtfertigen von irgendwelcher Gewalt.

"Dass das jüdische Volk zurückgekommen ist, darin sehe ich ein Zeichen der Treue Gottes."

Was gibt es denn für biblische Ansätze zur Lösung der gegenwärtigen Konflikte?

Dass das jüdische Volk durch den Zionismus im 20. Jahrhundert zurückgekommen ist und heute der Staat errichtet ist, darin sehe ich ein Zeichen der Treue Gottes. Ich sehe darin Fügung Gottes, auch wenn vieles falsch geht, auch wenn Israel deswegen nicht ideal und perfekt und schuldlos ist. Zugleich hat es aber auch dazu geführt, dass der jetzige Staat Israel, wie er auch völkerrechtlich anerkannt ist, nämlich in den Grenzen von 1949, also nach dem Unabhängigkeitskrieg und der Nakba [Vertreibung von Palästinensern, Anm. d. Red.] eigentlich ante portas ist, gerade nicht im Kerngebiet des Heiligen Landes. Dieses ist ja Jerusalem, Samaria und Judäa, also die heutige Westbank.

Es hätte die Möglichkeit für einen palästinensischen Staat gegeben. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, die ich auch biblisch gut vertreten kann, weil es auf der einen Seite für das Judentum Schutz vor Verfolgung und Antisemitismus gibt, aber auch die Möglichkeit, in dieses Land zu gehen, um da religiös-jüdisch zu leben. Auf der anderen Seite sind aber auch die anderen Völker, sind wir Christen berufen, auch in diesem Land zu sein. In diesem Sinne wäre für mich eine Zweistaatenlösung eigentlich eine, die sehr stark mit einem biblischen Ethos zusammengeht, wenn die Menschen in Frieden zusammenleben können.

"Auch ein jüdischer Staat kann Palästinenser als echte Bürger behandeln."

Heute sind wir aber nicht mehr 1949, wir sind auch nicht mehr 1973. Heute halte ich eine Zweistaatenlösung nicht mehr für realistisch. Die Angriffe der Hamas haben noch einmal sehr klar gezeigt: Diese Terroristen-Organisation will keinen Frieden, keinen Staat Israel. Das ist zutiefst antisemitisch. 

Ich sehe nur eine Einstaatenlösung im Augenblick mit Israel als Sicherheitsmacht über das Ganze und mit einer Teilautonomie von Palästinensern darin, sich zu verwalten. Die Idee von einheitlichen, ethnischen Staaten ist sowieso vorbei. Das war im 19. und 20. Jahrhundert so. Heute braucht es eine Rechtsstaatlichkeit mit bürgerlichen Rechten für alle Bewohner verschiedener Herkunft und religiöser Überzeugung. Auch ein jüdischer Staat kann Palästinenser als echte Bürger behandeln, ebenso Christen und Muslime, wie es für einen Rechtsstaat gilt. Ich kann heute nur eine solche Position als realistisch sehen, und das wäre auch sehr biblisch.

Interview: Jan Hendrik Stens, Domradio.de

Autor:

Pater Christian Rutishauser SJ ist der Delegat für Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten. Bis zur Gründung der neuen Provinz war er Provinzial der Schweizer Provinz. 1965 geboren und in St. Gallen aufgewachsen. Studium der Theologie in Fribourg und Lyon. Ein Jahr Pfarreiarbeit und anschliessend Noviziat der Jesuiten in Innsbruck. 1994-1998 Arbeit als Studentenseelsorger an der Universität Bern und Leiter des Akademikerhauses in Bern. Doktoratsstudium im Bereich Judaistik in Jerusalem, New York und Luzern. Dissertation zu Rav Josef Dov Soloveitchik (1903-1990) mit dem Titel «Halachische Existenz» im Mai 2002. Seither verschiedene Lehraufträge im Bereich jüdischer Studien, so an der Hochschule für Philosophie S.J. in München, am Kardinal-Bea-Institut an der Universität Gregoriana in Rom und am Theologischen Studienjahr an der Dormitio-Abtei in Jerusalem. Seit 2004 Mitglied der Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission der Schweizerischen und seit 2012 auch der Deutschen Bischofskonferenz. Delegationsmitglied der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum seit 2004; seit 2014 in derselben Funktion ständiger Berater des Heiligen Stuhls.

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